Angeblicher Michelangelo bei Christie's:Großer Nacken, kleiner Po

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Eigentlich ist die unsichere Körperzeichnung eines Michelangelo nicht würdig - und eigentlich hat der Perfektionist fast alle seine Zeichnungen schon zu Lebzeiten verbrannt. Trotzdem bietet das Auktionshaus Christie's ein fragwürdiges Blatt nun als echten Michelangelo an.

Kia Vahland

Michelangelo bleibt auch beinahe 450 Jahre nach seinem Tod ein überaus produktiver Künstler. Regelmäßig, im Abstand von nur wenigen Jahren, tauchen auf dem Markt Zeichnungen auf, die ihm zugesprochen werden. Meistens wurden diese Blätter jahrhundertelang von früheren Kunsthistoriker-Generationen weitaus vorsichtiger als Nachahmungen bewertet. Nun sollen sie als Originale Millionensummen einspielen.

Ein echter Michelangelo oder ein fälschlich zugeschriebener? Diese Zeichnung eines Männerrückens jedenfalls bietet das Auktionshaus Christie's in London als originales Blatt von Michelangelo an. Sie stammt aus dem Bestand des Sammlers Melvin R. Seiden. (Foto: dpa)

So auch im jüngsten Fall. Christie's bietet in London am 5. Juli aus Privatbesitz die Renaissancezeichnung eines männlichen Rückenakts für drei bis fünf Millionen Pfund als Original Michelangelos an. Das Auktionshaus erkennt in dem Blatt eine eigenhändige Studie für die Cascina-Schlacht, also das Großprojekt, an dem Michelangelo 1504 im Wettstreit mit Leonardo da Vinci in Florenz arbeitete.

Das Fresko kam damals nicht zustande, erhalten ist aber eine recht getreue kleinere Grisaille mit der Komposition Michelangelos. Es handelt sich um die Sicherheitskopie einer Kreidezeichnung, die Bastiano da Sangallo zeitnah gefertigt hatte. Demnach nehmen die Kämpfer bei Michelangelo ein Bad. Einer ist von hinten zu sehen. Er zupft an seiner nassen Hose, die so eng anliegt, dass sein Gesäß sich deutlich abzeichnet. Diese Pobacken nun tauchen auf der Zeichnung von Christie's wieder auf, jetzt nackt. Also ein Original des Meisters?

"Nein", sagt der Kunsthistoriker Alexander Perrig, der seit mehr als 50 Jahren Michelangelo-Zeichnungen studiert. Der Künstler habe nach dem Leben gezeichnet und seine Modelle nicht wie dieser Zeichner um ihre Köpfe gebracht. Die Anatomie stimme nicht: Der Stiernacken sei im Vergleich zur merkwürdig eingeknickten Taille überproportional mächtig, der Kapuzinermuskel verlaufe inkorrekt über den gesamten Rücken, die Drehung der Schultern passe nicht zur Stellung der Hüften und die rechte Achselhöhle sei im Verhältnis zu dem viel zu schmalen Armansatz zu groß. Michelangelo aber kannte sich aus mit Muskelgruppen und Männerschultern, solche Missgeschicke wären ihm nicht passiert.

Perrig schlägt vor, die Zeichnung dem Miniaturisten Giulio Clovio (1498 bis 1578) zuzuschreiben. Typisch für Clovio seien die starken, an manchen Stellen unsicheren und korrigierten Körperkonturen. Auch solch akzentuierte untere Wirbelsäulen finden sich häufig bei dem Zeichner. Das Gestauchte der Figur, ihre mangelnden Proportionen müssten Clovio nicht gekümmert haben, da er seine Zeichnungen später auf Miniaturen übertrug, sie also auf Handgröße reduzierte. Clovio könnte Michelangelos Rückenansicht des gebadeten Hosenanziehers gekannt und als eine von mehreren Vorlagen benutzt haben.

Enorme Preissteigerung

Manches davon mag man erst sehen, wenn man es weiß. Ein Stiernacken auf einem zu schlanken Rumpf aber kann auch Laien auffallen. Nur: Je mehr Blätter aus fremder Hand Michelangelo zugesprochen werden, desto unschärfer wird die allgemeine Idee von seinem zeichnerischen Œuvre. Hat man sich erst einmal an die dicken Konturen, die unsichere Strichführung gewöhnt, so finden sich immer mehr Blätter, die genau so aussehen und auch höhere Weihen verlangen.

Christie's erzielte im Juli 2000 einen Rekorderlös von 7,4 Millionen Pfund mit einer angeblich originalen Christusstudie - die in ihrer fragmentarischen Komposition und den zu dichten Schraffuren alle Indizien der Nachzeichnung eines Kollegen nach Michelangelos römischer Christus-Skulptur in Santa Maria sopra Minerva aufweist.

Ebenfalls bei Christie's zahlte das Getty Museum sieben Jahre zuvor 4,2 Millionen Pfund für eine vermeintlich originale "Ruhe auf der Flucht", an der vor allem Marias grobe Pranken und das anatomisch verrenkte Jesuskind auffallen. Zum Vergleich: Im Jahr 1964 war eine Michelangelo zugeschriebene Zeichnung bei Sotheby's noch für 12500 Pfund zu haben.

Für diese enorme Preissteigerung sind die Experten verantwortlich. Sie sorgen für maßvollen, aber steten Nachschub. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben sich immer mehr namhafte Kunsthistoriker auf Großzügigkeit in Sachen Michelangelo verständigt.

Bernhard Berenson genügten 1938 noch 288 originale Zeichnungen, Charles Tolnay fand 1980 schon 643, inzwischen dürften es weit über 800 sein. Nur: Michelangelo, der Perfektionist, hat zeitlebens beinahe all seine Zeichnungen verbrannt. Übrig waren nach seinem Tod 1564 nur die wenigen Geschenke an seine Freunde, ein Stapel Blätter, den er 1534 in Florenz zurückließ und zehn Entwürfe im Nachlass. Die historisch glaubwürdige Anzahl an überlieferten Michelangelo-Skizzen bewegt sich also im niedrigen zweistelligen Bereich.

Vor allem die britische Schule um Michael Hirst hegt dennoch wenig Bedenken, weiter zuzuschreiben. Kraft ihrer Autorität sorgen einige Kunsthistoriker so seit Jahren für immer neue Marktereignisse.

Man wird dafür niemanden belangen können, zumal es sich nicht, wie im Fall der Sammlung Jägers, um spätere Fälschungen handelt. Die Öffentlichkeit aber, inklusive der Sammler und Museen, kann kein Interesse daran haben, Michelangelo als Zeichner derart abzuwerten. Ein Männerakt ist schließlich zum Anschauen da.

© SZ vom 16.06.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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