Angeben für Anfänger:Die Zungenspitze macht drei Sprünge den Gaumen hinab

Sex in der Kutsche und Vierbuchstabenwörter: Über was unterhält man sich auf der Buchmesse? Am besten über ein paar gepflegte Literatur-Skandale.

Lena Schilder

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Madame de Pompadour

Quelle: DPA

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Sex in der Kutsche und Haare am Bein: Über was unterhält man sich gepflegt auf der Buchmesse? Am besten über ein paar gepflegte Literatur-Skandale. Aus gegebenem Anlass: Ein Angeben-für-Anfänger spezial.

"Weiterfahren!" Dieser ziemlich unspektakulär klingende Befehl war Teil eines Literaturskandals, der vor Gericht ausgefochten wurde und den Autor Gustave Flaubert beinahe für zwei Jahre ins Gefängnis gebracht hätte. Es ging um einen Wagen "mit zugezogenen Vorhängen, der so immer wieder erschien, verschlossener als ein Grab und schwankend wie ein Schiff". Im Klartext: Um die ehebrecherische Emma Bovary, die es sich mit ihrem Lover Leon in einer französischen Droschke offenbar mehr als nur gemütlich gemacht hatte. Scandaleuse!

Die Brisanz ist heute nicht mehr nachvollziehbar, doch auch die Welt des Anything goes prallt immer wieder gegen literarische Stoppschilder, die aufzeigen, wo die Grenzen einer Gesellschaft liegen. Manche literarischen Skandale waren und sind aus Marketinggründen gewollt, manche brauen sich überraschend zusammen, manche Bücher sind so giftig und explosiv, dass sie einfach hochgehen müssen.

Hier zur Anleitung für eine Plauderei auf der Buchmesse eine Sarazzin-freie Cronique scandaleuse tabubrecherischer literarischer Ergüsse.

Literatur, Skandal

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Autor: Gustave Flaubert

Buch: Madame Bovary, 1856

Um was geht es: Emma träumt, nachdem sie sich das eine oder andere sentimentale Büchlein zu Gemüte geführt hat, von einem Leben voller Romantik. Statt plötzlich Prinzessin wird sie die Frau des Landarztes Charles Bovary, dessen Gedanken, laut Emma, "Platt wie ein Gehsteig" sind. Gegen diese Tristesse flüchtet sie sich in Affären mit anderen Männern, verschuldet sich hoch und bringt sich schließlich um.

Was war der Skandal: Eine angedeutete Sex-Szene mit Beteiligung einer verheirateten Frau und, Gipfel der Geschmacklosigkeit, Mutter.

Zitat: "Er verstand nicht, welche Fortbewegungswut diese Individuen dazu trieb, nicht mehr anhalten zu wollen. Er versuchte es einige Male und hörte dann sofort hinter sich zornige Ausrufe losgehen. Dann schlug er noch ärger auf seine schweißbedeckten Gäule ein, aber achtete nicht mehr auf die Unebenheiten des Wegs, kümmerte sich nicht mehr darum, wenn er da und dort anstieß, mutlos und fast weinend vor Durst, Ermüdung und Traurigkeit."

Folgen: Nachdem der Prozess gegen die Moral und die Religion überstanden war, erschien Madame Bovary 1857 - und wurde zu einem der berühmtesten Romane der Weltliteratur.

Auch der Selbstmord der Protagonistin, samt langem Todeskampf, sorgte für Debatten. Das hatte vor ihr schon einmal eine literarische Figur getan. Da es sich bei dieser Figur aber um einen absoluten Sympathieträger gehandelt hatte, wog das Ganze damals noch schwerer:

URAUFFÜHRUNG "WERTHER IN NEW YORK"

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Autor: Johann Wolfgang (damals noch nicht "von") Goethe

Buch: Die Leiden des jungen Werther, 1774, ein Briefroman

Um was geht es: Werther, der sich einfach nicht an einen Nine-to-five-Job gewöhnen kann, flüchtet aufs Land, blüht angesichts zahlreicher Blümchen und Bäumchen zu gefühlvollen Höchstleistungen auf, verliebt sich dann aber unglücklich in Lotte und sieht, vor lauter Weltschmerz, keinen anderen Ausweg als sich das Leben zu nehmen.

Was war der Skandal: Der Selbstmord an sich und der im Reportagenstil detailliert beschriebene, blutige Todeskampf Werthers.

Zitat: "Werther hatte man auf das Bett gelegt, die Stirn verbunden, sein Gesicht schon wie eines Toten, er rührte kein Glied. Die Lunge röchelte noch fürchterlich, bald schwach, bald stärker; man erwartete sein Ende."

Folgen: Ein Werther-Kult brach aus. Es gab Tassen und Bonbons mit seinem Konterfrei, der erste Roman Goethes wurde, in zahlreiche Sprachen übersetzt, ein internationaler Erfolg.

Das Problem dabei: Die schwärmerischen Jugendlichen begnügten sich nicht damit, in blauem Frack mit gelber Weste melancholisch auf einem Baum zu sitzen, sie eiferten dem literarischen Vorbild nach und brachten sich reihenweise um. Das war natürlich überhaupt nicht mehr lustig.

Die katholische Fakultät von Leipzig verbot den Roman bis 1825 in ihrer Stadt, da er eine Apologie und Empfehlung zum Selbstmord sei. In der zweiten Fassung schrieb Goethe den Satz "Sei ein Mann und folge mir nicht nach" in sein Vorwort.

LADY CHATTERLEY

Quelle: DPA

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Autor: D. H. Lawrence, Enfant terrible der englischen Literaturszene, der sich schon mit früheren Werken den Ruf eines pornographischen Schriftstellers erworben hatte.

Buch: Lady Chatterley's Lover, 1928

Um was geht es: Conny Chatterley lässt sich mit dem Wildhüter ihres Ehemannes ein und teilt mit ihm befreiende Erlebnisse der besonderen Art.

Der Skandal: Zum einen die vulgäre Sprache. So genannte four letter words, wie shit, die damals eingentlich nicht druckbar waren, zum anderen die offenen Schilderungen der Liebesszenen aus Sicht der Frau. Darüber regt sich schon lange kaum mehr jemand auf. Dafür gingen später Feministinnen auf die Barikaden, die chauvinistische Strategien hinter dem Werk vermuten, sowie eine Degradierung der Frau zur Liebesdienerin.

Zitat: "Sie verging, sie war gar nicht mehr, sie wurde geboren: Ein Weib."

Folgen: Der Roman wurde sofort verboten, was hauptsächlich zur Folge hatte, dass unzählige Raubkopien auf den Markt kamen. Durch sein Publikationsverbot war Lawrence ständig in Geldsorgen und auf die Gunst von Gönnern angewiesen. Es erschienen zensierte Fassungen, ehe das Verbot in den USA 1959 per Gerichtsurteil endete. Mittlerweile gibt es zahlreiche Verfilmungen. Die von Pascale Ferran war besonders erfolgreich und erhielt 2007 fünf Césars, darunter für den besten Film. Kein Wunder, auf Französisch klingt die Story gleich noch ein bisschen verruchter: Lady Chatterly et l'homme des bois (Lady Chatterly und der Mann aus dem Wald)

Charlotte Roche mit 'feuchtgebiete' auf Lesereise

Quelle: dpa

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Autor: Charlotte Roche

Buch: Feuchtgebiete, 2008

Um was geht es: Die 18-jährige Helen liegt nach einer missglückten Intimrasur auf der Station für Innere Medizin. Wichtiger als die eigentliche Handlung ist Helens sehr gründliche Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper samt seiner sonst verschwiegenen Marotten und Eskapaden. Haarige Körperstellen, zweckentfremdete Avocadokerne und Hämorrhoiden haben große Auftritte in diesem Buch.

Der Skandal: Der Unten-ohne-Roman war eher ein Tabubruch denn ein Skandal (kein Verbot, dafür wochenlang Anführer der Bestsellerlisten). Helen trat entschlossen gegen den Hygienewahn an und wurde das Gegenbild aller keimfreien Junge-Mädchen-Beeinflusser.

Zitat: "Hygiene wird bei mir kleingeschrieben."

Folgen: Platz eins der Bestsellerliste - und eine genervte Charlotte Roche: "(...) Ich habe mir über Hämorrhoiden und den ganzen Rest den Mund fusselig geredet, ich fühle mich völlig leergesaugt." Und vielleicht der ein oder andere Teenager, der stolz die Haare sprießen lässt.

Vorschau: BGH prueft Geldentschaedigung wegen Billers Roman 'Esra'

Quelle: ddp

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Autor: Maxim Biller

Buch: Esra, 2003

Um was geht es: Adam, der als Alter Ego des Autors erkennbar ist, da er im Roman teils die selben Bücher wie der echte Maxim Biller geschrieben hat, versucht sich in einer Beziehung mit einer zwar außergewöhnlich schönen, aber unterkühlten Frau. Im Grunde handelt es sich um die detailgetreue Wiedergabe eines Lebensabschnittes des Autors, samt der Nennung real existierender Münchner Cafés und Straßen.

Der Skandal: Zwei Frauen (Mutter und Tochter) erkannten sich in dem Roman wieder und fanden ihre Romanfiguren höchst unerfreulich gezeichnet. Da wesentliche Ereignisse im Leben der nicht ganz unbekannten Damen genannt waren, und Biller auch das Sexualverhalten der Geliebten beschrieben hatte, zogen die beiden vor Gericht. Da half auch das beschwichtigende Nachwort nicht mehr:

Zitat: "Sämtliche Figuren und Handlungen dieses Romans sind frei erfunden. Alle Ähnlichkeiten mit Lebenden und Verstorbenen sind deshalb rein zufällig und nicht beabsichtigt."

Folgen: Nach einer Verfassungsklage bleibt der Roman, wegen Verletzung der Intimsphäre, dauerhaft verboten. Zahlreiche Autoren haben sich mit Biller solidarisch erklärt und lautstark die Freiheit der Kunst eingefordert. Freiheit der Kunst gegen Persönlichkeitsrechte? Keine leichte Nummer.

Literatur, Skandal

Quelle: oH

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Autor: Klaus Mann

Buch: Mephisto, erstmals 1936

Um was geht es: Um einen Teufelspakt. Der Roman einer Karriere erzählt die Geschichte des Schauspielers Hendrik Höfgen, der, Opportunismus sei dank, unter den Nazis eine glänzende Karriere hinlegt.

Zitat: Hendrik äußerte den Wunsch, Herrn Knurr zu begrüßen - eben jenen Bühnenportier, der immer schon das Hakenkreuz unter dem Rockaufschlag versteckt getragen hatte und an dessen Loge Höfgen, der "Kulturbolschewist", so ungern und mit so viel schlechtem Gewissen vorübergegangen war. Würde das alte Parteimitglied nicht vor Freude beben, wenn es nun dem Freund und Favoriten des Ministerpräsidenten die Hand schütteln durfte?

Der Skandal: Hendrik Höfgen ist mühelos als der bekannte Theaterschauspieler Gustaf Gründgens identifizierbar, der, vor seiner Karriere im Dritten Reich, mit Klaus Mann befreundet und mit dessen Schwester Erika verheiratet gewesen war.

Folgen: Peter Gorski, Alleinerbe und Adoptivsohn Gründgens, forderte 1963, kurz nach dem Tod des Schauspielers, die Herausgabe zu unterlassen. 1966 wurde die Verbreitung in der Bundesrepublik gerichtlich verboten, da die Allgemeinheit kein Interesse daran habe, "ein falsches Bild über die Theaterverhältnisse nach 1933 aus der Sicht eines Emigranten zu erhalten". Ein Hintertürchen blieb allerdings: In fernen Zeiten, wenn die Erinnerung an Gründgens verblasst sei, dürfe der Roman vielleicht wieder gedruckt werden. So erschien der Roman 1981 auf Risiko und in einer unangekündigten Nacht- und Nebelaktion in der Buchhandlungen - und fand sich kurz darauf auf Platz 1 der Bestsellerlisten wieder.

LOLITA

Quelle: DPA

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Autor: Vladimir Nabokov

Buch: Lolita, 1955

Um was geht es: Humbert Humbert, Ich-Erzähler und Literaturwissenschaftler, verliebt sich in das raffinierte Nymphchen Lolita. Heiratet, um die Anpirschungschancen zu erhöhen, erst ihre Mutter und zieht nach deren willkommenem Unfalltod mit seiner jungen Geliebten als "Vater-Tochter"- Gespann durchs Land.

Der Skandal: Lolita ist noch ein Kind und trotzdem verführt sie den alten Herrn im Hotel

Zitat: "Lolita, Licht meines Lebens, Feuer meiner Lenden. Meine Sünde, meine Seele ... die Zungenspitze macht drei Sprünge den Gaumen hinab und tippt bei Drei gegen die Zähne. Lo. Li. Ta."

Folgen: Nabokov, der sein Werk als "ein Kunstwerk mit hohem moralischen Gehalt" einstufte, gefährdete seine Mitgliedschaft im Kollegium seiner Universität und fand erst im Pariser Verlag Olympia Press, der auf erotische Literatur spezialisiert ist, einen Abnehmer. Bald machte Lolita ihn zu einem weltweit bekannten und finanziell abgesicherten Autoren.

CHRISTIAN BALE

Quelle: AP

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Autor: Bret Easton Ellis

Buch: American Psycho, 1991

Um was geht es: Der 26-jährige Investment-Broker Bateman, der sich stets in edle Armani-Anzüge hüllt, führt ein Doppelleben und verübt sadistische Gewalttaten. Er foltert, häutet und schlachtet wahllos Frauen, Männer, Kinder und Tiere. Dabei verdichten sich die Hinweise, dass die grausamen Szenen nur der pervertierten Phantasie des Protagonisten entstammen.

Der Skandal: Siehe oben. Detaillierte Beschreibungen sadistischer Handlungen, Folterungen und Morde. Vergewaltigung, extreme Gewalt, Drogenexzesse, mehr Skandal passt in kein Buch.

Zitat: Der Roman beginnt mit der berühmten Warnung, mit der schon Dante Neuankömmlinge in der Hölle begrüßte: "Abandon all hope, ye who enter here".

Folgen: "Zerstört es" forderte ein Kritiker der New York Times. Eastons Verlag Simon & Schuster lehnte die Veröffentlichung ab. In Deutschland wurde das Buch als jugendgefährend eingestuft; Verkauf und Marketing waren bis 2001 verboten. Easton bekam zahlreiche Morddrohungen und wurde von Feministinnen wie Gloria Steinem an den Pranger gestellt. Deren Stiefsohn Christian Bale spielte Bateman übrigens in der Filmadaption und sorgte damit wohl für einen Familienskandal. Manche Kritiker halten das Buch für eines der wichtigsten der neunziger Jahre.

Prix Goncourt für Jonathan Littell

Quelle: dpa

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Autor: Jonathan Littell

Buch: Die Wohlgesinnten, 2006

Um was geht es: Ein fiktiver, homosexueller SS-Offizier beschreibt die Judenverfolgung aus seiner Perspektive.

Der Skandal: Die Geschichte des Zweiten Weltkriegs nicht aus der Perspektive eines Opfers erzählt, sondern aus der eines Täters. Ein Werk von einem jüdischen Amerikaner, der auf Französisch über den deutschen Nationalsozialismus schreibt und, mit Max Aue, behauptet:

Zitat: Ihr Menschenbrüder, lasst mich euch erzählen, wie es gewesen ist.

Folgen: Le Monde feierte es als eines der eindruckvollsten Bücher, das je über den Nazismus geschrieben wurde. In Deutschland waren die Meinungen geteilt und reichten über das Urteil genial bis zum Abklatsch der letzte Dreck. In Israel erschien das Buch 2008 auf Hebräisch und wurde ein Bestseller.

Ausstellungseroeffnung 'Fuer Marcel Reich-Ranicki'

Quelle: ddp

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Autor: Martin Walser

Buch: Tod eines Kritikers, 2002

Um was geht es: Um den deutschen Literaturbetrieb. Ein Starkritiker namens André Ehrl-König verschwindet von der Bildfläche. Ein Mord wird vermutet und als Täter kommt ein von ihm geschmähter und daher gekränkter Schriftsteller in Frage.

Der Skandal: Bei André Ehrl-König handelt es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um ein Portrait des ziemlich realen Kritikers Marcel Reich-Ranicki (im Bild).

Zitat: "Da las ich nun, Hans Lachs neuestes Buch Mädchen ohne Zehennägel sei von André Ehrl-König in seiner berühmten und beliebten Fernseh-Show SPRECHSTUNDE unsanft behandelt worden. Der Autor habe den Kritiker, als der, wie es üblich sei, nach seiner Fernseh-Show in der Bogenhausener Villa des Ehrl-König-Verlegers Ludwig Pilgrim erschien, grob angepöbelt."

Folgen: Frank Schirrmacher, Herausgeber der FAZ, lehnte einen Vorabdruck wegen antisemitistischer Klischees ab - noch ehe das Buch erhältlich und zugänglich war. Eine Debatte, ob man ein Buch vorverurteilen dürfe und ob das Buch tatsächlich antisemitischen Inhalts sei, entbrannte. Reich-Ranicki himself hielt sich aus der Diskussion weitgehend hinaus.

Skandalroman ´Axolotl Roadkill" auf der Bühne

Quelle: dpa

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Autor: Helene Hegemann

Buch: Axolotl Roadkill, 2010

Um was geht es: Die 16-jährige Mifti kotzt sich wortgewaltig aus.

Der Skandal: Der Roman entpuppte sich stellenweise als Copy-and-Paste Literatur. Hegemann hat sich nachweislich bei dem Blogger Arien bedient, der Teile seines Bloggs unter dem Titel Strobo selbst veröffentlichte.

Zitat: "(...) weil so viele Gedanken da sind, dass man seine eigenen Gedanken gar nicht mehr von den fremden unterscheiden kann."

Folgen: Der Titel als "Wunderkind der Boheme" ist erst mal futsch. Und der Versuch der Rechtfertigung der Autorin, als Stellvertreterroman der Nullerjahre habe Axolotl Roadkill auch das Recht "zur Ablösung von diesem ganzen Urheberrechtsexzess durch das Recht zum Kopieren und zur Transformation" zog auch nicht so recht.

© sueddeutsche.de/ls/kar
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