Süddeutsche Zeitung

Roman "Das Gartenzimmer":Das Buch, in dem man wohnen will

Andreas Schäfers Roman "Das Gartenzimmer" spielt in einem unheimlich schönen Haus. Einer Raumwerdung dessen, was unsagbar ist. Die Frage ist: Wo steht es?

Von Gerhard Matzig

Wer sich auf der letzten Seite nicht graust vor diesem Ort des Bösen, in dem die mit botanischer Leidenschaft gläserweise gesammelten Augen toter Kinder die Buchregale füllen, hat kein Herz. Es ist die Zeit des Rasse-Irrsinns, die NS-Zeit. Die Regale des Terrors beheimaten, nur ein Stockwerk über der bestialischen Kinderaugensammlung in der alten Villa, auch die Werke der Philosophie - als Blaupausen einer besseren Welt. Und wer sich bis dahin, bis zum Ende des Romans, der von der Weimarer Zeit über die tausend Jahre der Nationalsozialisten in die Gegenwart ragt und dieses bipolar gestörte Jahrhundert durch die Verortung in einem Landhaus anschaulich werden lässt, noch nicht verliebt hat in die Villa als Hort der Schönheit, der ist ohne jeden Verstand.

Der hat keinen Sinn für den Garten der Robinie und die Terrassenbeete voller Anemonen und Narzissen, für Loggia, Stützmauer, Giebelfront und das Dach, das wie ein eingelöstes Versprechen wirkt. Der ahnt auch nicht, warum sich Menschen verlieben können in eine Dingwelt als Archiv der Träume und als Habitat des Seins - und in den honiggelben Handlauf eines Treppengeländers, der all das birgt, was hier je Halt gesucht hat.

"Denkmalgeschütztes Kleinod der Vormoderne. 280 Quadratmeter, 8 Zimmer. Baujahr 1909"

Manchmal ist man melancholisch gestimmt in diesem Roman eines Hauses, das viel mehr verborgene Zimmer als gedacht und viel mehr geheime Flure als geplant zu haben scheint; das bisweilen an ein sentimentalisches Gedicht von Doderer erinnert ("viel ist hingesunken uns zur Trauer") und einen zugleich aufspringen lässt vor euphorisierender Zukunftslust. An einem Ort, der Erwartung und Erinnerung in einem ist, ist es auf einer der letzten Seiten in diesem fulminanten Roman das Haus selbst, das spricht. Einmal mehr soll es, gelegen am Rande des Grunewalds in Berlin, verkauft werden: "Denkmalgeschütztes Kleinod der Vormoderne. 280 Quadratmeter, 8 Zimmer. Baujahr 1909."

Der Roman ist an dieser Stelle an sein Ende gelangt und man nimmt traurig, befreit und verwirrt, aber niemals teilnahmslos Abschied von seinem präzise gesetzten und eindrücklichen Figurenwerk. Ein Werk ist das, in dem es keine Details gibt, keine Nebenfiguren oder Handlungsverästlungen, die ohne Sinnzusammenhang bleiben. Schon als Raumkomposition ist dieser Roman überzeugend. Als Sprachraum zeugt er von enormer Könnerschaft. Wie im Sog des Geschichtlichen entwickeln sich die Protagonisten in ihrer je eigenen Zeitschicht. Die Erzählung, in der sich Rückblenden an den Beginn des 20. Jahrhunderts und eine Gegenwart an dessen Ende sprunghaft abwechseln, ohne je aus dem Rhythmus zu geraten, springt souverän und trittsicher von Zeit zu Zeit.

Die Figuren bleiben so sehr bei sich, dass man ihnen auch dann gern folgt, wenn sie ambivalent erscheinen. Oder eben weil sie es sind. Das Buch ist geschichtet wie ein gutes Bauwerk. Es verfügt über handwerkliche Genauigkeit und Kunstsinn. In der Baukunst fügen sich zwei Backsteine zu Architektur, wenn sie mehr sein wollen als nur zwei Backsteine. Das gilt für dieses Buch ebenso. Es gilt für Orte, Menschen und ihre Begegnungen, die mehr sind als nur das. Wäre das Buch ein Bauwerk, man wollte darin leben. Obwohl oder gerade weil man ahnt, dass wir in Häusern etwas festhalten wollen, "was nicht festzuhalten ist".

Was festzuhalten ist: Die "Villa Rosen", Hauptschauplatz des Buches, ist "ein neoklassizistisches Landhaus". Entworfen für den Philosophieprofessor Adam Rosen und seine Frau Elsa. Max Taubert heißt der junge Architekt, der kaum zwanzig Jahre alt sein Erstlingswerk in einer Villenkolonie realisiert. Wer sich hinter diesem Taubert verbirgt, der die Gier eines jungen Wildschweins, die Empathie eines Backsteins und die Kunstbesessenheit eines späteren Genies in sich vereinigt, gehört abseits des literarischen Vergnügens zu den bauhistorisch anregenden Rätseln.

Zuvor aber folgt den Rosens ein Jahrhundert später die Familie Lekebusch, die das Anwesen erwirbt. Jetzt ist man in der Gegenwart. Zwischenzeitlich wurde die Villa vom Krieg heimgesucht und umgenutzt. Als Erstlingswerk des später weltberühmten Architekten wird es zum Denkmal. Frieder Lekebusch, der ein Vermögen mit Generika, also mit billig hergestellten und massenweise vertriebenen Arzneimittelkopien gemacht hat, ist bereit, für ein "Original" in seinem Leben ein Vermögen in die denkmalgerechte Sanierung zu stecken. Auch seiner Frau zuliebe. Hannah war einmal Zahntechnikern - und wird zur kunstbeflissenen Hüterin eines Pilgerorts für andächtig in der Halle verharrende Taubert-Fans. Sie verwandelt das Haus in eine museale Schönheit, die zur lebensfeindlichen Maschinerie der Perfektion gerät. Menschen werden darin zu störenden Möbeln. Oder zu Kinderaugen rassehygienischer Labore. Man ahnt, dass die Ehe von Frieder, dem kopistischen Originalsinnsuchenden, und Hannah, der am Original scheiternden Kopistin, an der schwebend rätselhaften Villa Rosen scheitern muss. In einer Plattenbauwohnung hätte die Liebe womöglich überlebt. Erzählt wird nicht nur von einem oft kriegerischen Jahrhundert, sondern auch von Lieben darin, die nicht lieblich, sondern kriegerisch sind.

Spätestens dann, wenn der so gern die Bauherrinnen beschlafende Architekt, der keinen richtigen Abschluss hat und politisch zwischen NS-Anbiederung und Flucht ins Exil für alles zu haben ist, was opportun erscheint, die Möbel am liebsten festschrauben möchte, damit das Leben nicht der Idee davon in die Quere kommt, ahnt man, wer dieser Max Taubert sein muss. Es ist Ludwig Mies van der Rohe, der eigentlich Ludwig Mies heißt. Aber er hat wie so viele fantastische Raumschöpfungen, allesamt verehrungswürdig, auch die eigene Biografie nach dem Bedarf der Verehrungswürdigkeit und Fantastik umgestaltet. Den Namen Rohe hat er von der Mutter, das "van der" ist eine freie Erfindung.

Die Villa Rosen kann nur das erste Auftragswerk des 21-jährigen Mies van der Rohe sein

Der Begriff "neoklassizistisch" in der Beschreibung der Villa im Klappentext ist übrigens eine falsche Spur. Zusammen mit dem Buchcover. Denn die Villa Rosen kann nur das erste Auftragswerk aus dem Jahr 1907 des damals 21-jährigen Mies van der Rohe sein. Auftraggeber war für ein eben nicht neoklassizistisches, sondern der viel interessanteren Reformarchitektur zugehöriges (also zwischen Tradition und Moderne vermittelndes) Haus der Philosoph und Neukantianer Alois Riehl. Alois Riehl, A. R., ist Adam Rosen. Hieß die Villa der Riehls bald liebevoll "Klösterchen", so wird im Roman daraus das "Hüttchen". Und während die echte Villa in Babelsberg steht und zu DDR-Zeiten vor der Renovierung im Jahr 2000 der Hochschule für Film und Fernsehen diente, ist das Hüttchen dazu ausersehen, der Freien Universität als Fotolabor am Grunewald zu dienen. Das Raumprogramm, die topologische Lage am Hang, die Charakterisierung des Max Taubert: Man kann sich getrost festlegen - die Villa Rosen ist das Haus Riehl. Für die Leserinnen und Leser spielt das keine Rolle, für Taubert-Mies-Jünger schon. Entscheidend ist das Haus als Transitstätte zwischen Zeitläuften und Schicksalen. Und als Raumwerdung des Unsagbaren.

In der Literaturgeschichte sind Häuser oft Schauplätze. Das gilt für das Rosenhaus bei Adalbert Stifter über Theodor Fontanes plantanenumstandenes Elternhaus der Effi Briest bis zum Oderbruch-Habitat in Judith Hermanns Buch "Sommerhaus, später". Das Haus ist ein schillernder Gegenspieler des Unterwegsseins. Immobilien sind artifizielle Antipoden der natürlichen Mobilität, wozu das Leben selbst gehört. Nichts im Universum ist statischer Natur. Alles ist Dynamik, Werden und Veränderung. Man liebt gerade deshalb alte Häuser, weil sie einem vermeintlich zum Fixpunkt im Kosmos der Bewegung werden. Wenn man müde ist von der Suche nach dem Glück dort draußen auf dem Meer der Bewegtheit, ist es drinnen, auf festem Grund, ein honiggelber Handlauf, der uns endlich Halt verspricht. Man liebt diesen Handlauf. Selbst wenn er dem Unglück Halt bietet.

Andreas Schäfer: Das Gartenzimmer. Roman. Dumont, Köln 2020. 352 Seiten, 22 Euro.

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Quelle:
SZ vom 22.07.2020/tmh
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