Andrea Tompa: "Omertà":Rosen für den Weltfrieden

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Diese besondere Rosenzüchtung mit dem Namen "Peace" wurde an die Abgeordneten der Gründungskonferenz der Vereinten Nationen verteilt. (Foto: Gottfried Czepluch/imago images)

Zum ersten Mal erscheint eines ihrer Bücher auf Deutsch: Andrea Tompas großer Roman "Omertà" über Liebe, Schweigen und Opportunismus in der rumänischen Parteidiktatur. Eine staunenswerte Entdeckung.

Von Lothar Müller

Als Kali das Dorf verlässt, das Haus, den Mann, der sie schlägt und ihr kein eigenes Geld zugesteht, kann sie nicht viel mitnehmen. Brot, Speck, ein wenig Pflaumenmus "und mein Linnen, was ich gewoben hab". Der Zweite Weltkrieg liegt noch nicht lange zurück, das Széker Land, dem sie entstammt, gehört wie ganz Siebenbürgen zur noch jungen Volksrepublik Rumänien.

Mit dem Linnen nimmt Kali ihre Sprache mit, das Ungarische. Für sie heißt die Stadt, in der sie sich auf dem Dienstbotenmarkt verdingen will, Kolozsvár, auf Rumänisch Cluj, auf Deutsch Klausenburg. Sie wird zu Fuß dort ankommen, vorbei an Schlössern mit eingeschlagenen Fenstern, Provinzbahnhöfen, denen man die Bombenangriffe noch ansieht. Sie wird Arbeit finden bei dem Rosenzüchter Vilmos. Die Kinderlosigkeit einer fast Vierzigjährigen, die sie aus ihrem Eheunglück mitgebracht hat, wird ein Ende haben. Die einzige Geliebte des Rosenzüchters wird sie nicht sein.

Kali ist die Portalfigur in dem großen Roman "Omertà. Buch des Schweigens" von Andrea Tompa, die 1971 in Cluj geboren wurde, als Angehörige der ungarischen Minderheit in Rumänien wie die meisten ihrer Figuren. In ihrer Familie gab es eine jüdische und eine katholische Großmutter, Repräsentanten des siebenbürgischen Bürgertums und politische Aktivisten. Sie hat 1989, kurz vor dem Ende der Ceaușescu-Diktatur , in ihrer Heimatstadt Ungarisch und Russisch zu studieren begonnen, ist am Beginn der Neunzigerjahre nach Budapest gegangen und hat ihr Studium dort fortgesetzt, war 1996/97 mit einem Stipendium in St. Petersburg.

Erzählen, ohne zu urteilen: Die Schrifstellerin Andrea Tompa. (Foto: Stefan Klüter/Suhrkamp Verlag.)

Ihre Dissertation hat sie über Vladimir Nabokov geschrieben, sie war Mitarbeiterin am Ungarischen Institut für Theatergeschichte und mehrere Jahre Theaterkritikerin, ehe sie 2010 ihr Romandebüt publizierte, "Das Haus des Henkers", mit dem sarkastischen Untertitel "Geschichten aus dem Goldenen Zeitalter" und einer Protagonistin, die wie ihre Autorin im Rumänien Ceaușescus in den Siebziger- und Achtzigerjahren aufwächst. Ins Englische wurde dieses Buch übersetzt, ins Deutsche noch nicht. Insgesamt vier Romane hat Andrea Tompa inzwischen geschrieben, "Omertà", im Original 2018 erschienen, ist der dritte. Mit ihm stellt der Suhrkamp-Verlag dem deutschen Publikum diese Autorin vor.

Er holt das Schweigen, das er im Titel trägt, auf weit über 900 Seiten in die Sprache hinein, mit vier Protagonisten, drei Frauen und einem Mann, die nacheinander das Wort erhalten. Auf die vom Leben versehrte Kali folgen Vilmos, der Rosenzüchter, der in der Aufbauphase der Parteidiktatur Karriere macht, dann die junge Annuschka, in der sich Land und Vorstadt durchdringen, und schließlich deren ältere Schwester Rózsi, die zum katholischen Glauben übergetreten ist, mit der "Rosenkranzgruppe", der sie angehört, vor Gericht gestellt wurde und körperlich schwer gezeichnet aus dem Gefängnis zurückkehrt. In dem Bericht, den sie auf Bitten ihrer Schwester schreibt, schält sich der harte Kern des Wortes "Omertà" heraus, das Schweigegebot, das ihr die Behörden auferlegt haben, als sie aus der Haft entlassen wird. Doch die Omertà hat in diesem Roman nicht das letzte Wort.

Über den Plot lässt er sich nicht begreifen. Der nachhaltige Eindruck, den er hinterlässt, entspringt seiner eigenwilligen Form. Er spielt in einer abgelegenen europäischen Provinz, aber die Muster des Provinzromans hat Andrea Tompa ausgeschlagen. Bei fortschreitender Lektüre wird klar, dass dieser polyphone Roman nicht nur aus vier Stimmen besteht, sondern vor allem aus dem Schweigen einer fünften Stimme, der Erzählerstimme eines zeithistorischen Romans. Es gibt sie hier nicht, es gibt nur die Stimmen der Ich-Erzähler, die sich wechselseitig beleuchten, aber mit sich allein sind, während sie erzählen. Eine Instanz der eleganten Überleitungen, des Kommentars, der Wertung, des Rückblicks aus einer Gegenwart auf die Irrtümer der in ihre Welt eingeschlossenen Figuren gibt es nicht.

"Ich muss es mir selbst erzählen, damit ich's nicht vergesse. Wie schön alles war."

Die große Kunst von Andrea Tompa besteht darin, dass diese Figuren viel mehr über sich und ihre Welt preisgeben, als sie wollen und wissen. Es ist die Kunst der Modellierung von Sprache, der Charakterisierung der Figuren durch die Tonlagen ihres Erzählens. Aus Kali zum Beispiel spricht nicht nur das Unglück ihrer Ehe, aus ihr sprechen die Märchen, die Sprichwörter, die Redewendungen ihrer Herkunftswelt. Die Lust im Bett ist in ihrer Ehe vernichtet worden, scharf geworden ist dafür ihr Blick auf die Männer. Für sie ist es ein Gesetz der Schöpfung, "dass der Mann, wenn er über die Frau gekommen ist, sich immer zur Seite dreht und schläft, und die Frau will ihm gerade dann schöne Dinge aus ihrem Leben erzählen". Manchmal hört der Rosenzüchter ihr zu. Aber meist ist sie allein mit ihrer Lebensgeschichte, eine Prise Notwehr ist ihrer Erzählerstimme beigemischt, die dem festen Leinen ähnelt, das sie selbst gewoben hat: "Ich muss es mir selbst erzählen, damit ich's nicht vergesse. Wie schön alles war. Schön, wie das Loch des Teufels."

Lockerer geknüpft, gelegentlich salopp hochschnellend, dann wieder zielstrebig geglättet ist der Erzählfaden bei Vilmos Décsi, dem Rosenzüchter, der in einem eigenen Haus lebt, schon vor dem Krieg seinen Gartenbetrieb aufgebaut hat und als autodidaktisch gebildeter Mann aus dem Volke an die Universität berufen wird. Das Gelände, auf dem er zum Ruhm der Volksrepublik Rumänien die Rosenzucht im Maßstab der Industrialisierung vorantreiben soll, verdankt er den Enteignungen der "Hóstáter", Bauern, die Landwirtschaft am Rande der Stadt betreiben.

Er besteigt nach seinem Eintritt in die kommunistische Partei die Karriereleiter mit der stillen Reserve des Individualisten. Seinen Opportunismus tarnt er als Realismus. Aber der hat ein Fundament von fantastischen Dimensionen: seine obsessive Leidenschaft für die Rosen. Sie ist nicht nur in sich erotisch gefärbt, sie ist mit seiner Obsession für Frauen verknüpft. Als Züchter ist er der Produzent der Objekte seiner Obsession, als Liebhaber der unglücklichen Kali, der jungen Annuschka und der mondän-bürgerlichen Madame M. hemmungsloser Konsument. Als ihm klar wird, dass seine Liebschaft mit Kali seine Karriere gefährdet, verfrachtet er sie und den Sohn, den sie ihm geboren hat (so sagt man das in seiner Welt), in ein flugs gekauftes Haus in einem nahen Dorf.

Nach dem Volksaufstand in Ungarn 1956 steht ein sowjetischer Panzer auf einem Platz in Budapest. Dieses Ereignis ist der zeithistorische Glutkern des Romans von Andrea Tompa. (Foto: DB/picture-alliance/ dpa)

All das lässt Andrea Tompa den Rosenzüchter selbst erzählen, ohne ihm je ins Wort zu fallen oder darauf hinzuweisen, was er verschweigt: dass seine Lebenslügen der Tribut sind, den er an die herrschende Macht und ihren Gewaltapparat zahlt. Staunenswert, wie es ihr gelingt, diese Figur nicht in ihrem Opportunismus verschwinden zu lassen. Vilmos hat den weitaus größten Part in diesem Roman. Denn anders als die Frauen hat er die Chance, die Verwurzelung in der Herkunftswelt mit dem Aufstieg in die Nomenklatura und in die internationale Welt zu verknüpfen. Er reist zu Rosenzüchter-Wettbewerben nach Triest und Paris, und er ist zugleich die etwas trübe Glasscherbe, durch die den Lesern des Romans die Geschichte des Abstiegs der Ungarn in Cluj und Siebenbürgen während der Fünfziger- und frühen Sechzigerjahre des zwanzigsten Jahrhunderts vor Augen tritt.

Andrea Tompa: Omertà. Suhrkamp, Berlin 2022. 954 Seiten, 34 Euro. (Foto: Suhrkamp Verlag)

Anfangs stellen sie noch die Mehrheit in der Stadt, aber zunehmend werden an der Universität wie im Alltag ihre Rechte eingeschränkt. Reine Opfer sind sie nicht, weil viele von ihnen mittun, wie Vilmos. Die Beschwichtigungsrhetorik, mit der er von den schraubstockartigen Befestigungen des Machtapparates in der Ära des Parteiführers Gheorghe Gheorghiu-Dej erzählt, kann die Härten der Zwangskollektivierung, der Inhaftierung oder Liquidierung von Abweichlern nicht überdecken. Zu ihnen gehört einer der engsten Freunde des Rosenzüchters, Lali, anders als er selbst ein überzeugter Sozialist, Jude wie viele seiner ins Gefängnis geworfenen Leidensgenossen. Vilmos wird die Prüfung, die diese Freundschaft für ihn darstellt, nicht bestehen.

Diese Prüfung ist eng mit der ungarischen Revolution im Herbst 1956 verknüpft. Sie ist der zeithistorische Glutkern des Romans, der auf alle Protagonisten abstrahlt.

Terézia Mora hat es ermöglicht, dass die vier Stimmen dieses eigenwilligen, exemplarischen Romans über die Errichtung eines Repressionsregimes in der europäischen Provinz nun auch im Deutschen zu hören sind. Sie ist selbst in einer mehrsprachigen Welt aufgewachsen. Als Übersetzerin der "Harmonia Caelestis" von Péter Esterházy ist sie mit den Herausforderungen polyphoner Romane vertraut. Sie hat dem deutschen Text ein Register mit den Begriffen und Ortsnamen des Originals beigegeben, die sie gelegentlich hat stehenlassen. So bleibt die Ferne der dargestellten Welt, zugleich aber holt die Übersetzung die Tonarten der Protagonisten ins Deutsche, einschließlich der älteren Sprachschichten, die Märchen, Chronik und frommen Rosenkranz einschließen und eine bisweilen aufreizende Demut.

Gibt es in diesem Roman eine Utopie? Ja, aber ihre Einlösung ist schon verpasst, als er beginnt. Es ist weder der Sozialismus noch die Vergangenheit oder Zukunft der Ungarn in Siebenbürgen. Es ist eine Rose namens "Peace", für die es wie für den Rosenzüchter selbst ein historisches Vorbild gibt. Sie geistert durch die Obsessionen von Vilmos Décsi, der aufmerksam die Kataloge seiner Kollegen in Frankreich, Deutschland, England studiert. Die Rose "Peace" fasziniert ihn schon, als er noch nicht weiß, warum sie ihren Namen trägt. Einen Ableger hat er erhalten, sie soll in seiner Welt aufblühen. Durch seine mondän-bürgerliche Geliebte, Frau M., erfährt er, dass bei der Gründungsversammlung der Vereinten Nationen 1945 in San Francisco jedem Teilnehmer die von dem Franzosen Francis Meilland gezüchtete Rose "Peace" überreicht wurde. Nun ist seine Obsession vollkommen, am Ende seiner Aufzeichnungen ist sie für ihn "die größte Rose der Welt", die welthistorische Verklärung seines Züchterdaseins. Dass Andrea Tompa Humor hat, kommt an vielen Stellen des Romans zum Ausdruck. Dies ist seine sarkastischste Pointe.

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Andrea Tompa und Terézia Mora als Übersetzerin sind mit "Omertà" für den Internationalen Literaturpreis des Hauses der Kulturen der Welt nominiert, dem interessantesten deutschen Literaturpreis. Auf der Shortlist stehen sechs Romane, darunter Can Xues "Liebe im neuen Jahrtausend" und Adania Shiblis "Eine Nebensache" . Der Preis wird am Mittwoch, dem 22. Juni, in Berlin verliehen.

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