Süddeutsche Zeitung

"Die Autobiographie des Giuliano di Sansevero":Er will nichts werden

Vom jüngsten Spross einer Familie des neapolitanischen Hochadels erzählt Andrea Giovene in ganzen fünf Bänden: die Geschichte einer sterbenden Klasse.

Von Thomas Steinfeld

Im dritten, hintersten Salon des herzoglichen Palastes, in einem blaugrünen Dämmerlicht, hängt eine riesige Leinwand. Der Stammbaum der Familie findet sich darauf abgebildet, ein ebenso gigantisches wie verschlungenes Gebilde mit unzähligen Verästelungen und reichem Blattwerk. Am unteren Rand, dort, wo der Stamm aus der Erde hervortritt, ist der Name "Gedeone", Gideon, mit der märchenhaften Jahreszahl "1002" verzeichnet. Dann geht es hinauf, Ast für Ast, Zweig für Zweig, über das späte Mittelalter und die frühe Neuzeit, bis der sechsjährige Knabe, der den Baum betrachtet, nichts mehr erkennen kann.

Dabei steht er auf einem Stuhl, den er auf einen Tisch gestellt hat. Irgendwo dort oben müsste sein Name eingetragen sein. Aber er ist nicht zu sehen, was nicht nur an der Entfernung und an der Dunkelheit liegt: "Zur Spitze hatten Feuchtigkeitsflecken ganze Generationen überwältigt, sie glichen ganzen Schwärmen mit einem Schrotschuss durchsiebter Spatzen. Der Baum kräuselte sich, er trübte und schlug Wellen." Kaum hat das Buch begonnen, zielt das Schicksal seines Helden ins Vage.

Über fünf Bände erstreckt sich die "Autobiographie des Giuliano de Sansevero", halb authentischer Lebensbericht und halb Roman. Erzählt wird die Geschichte des (soweit man nach zwei Bänden weiß) jüngsten Sprosses einer hochadligen Familie in Neapel, von einer Kindheit vor dem Ersten Weltkrieg bis in die späten Fünfziger. Unterwegs zieht der Held durch Mailand, Rom und Paris. Er baut sich ein Haus in einer Einöde mit Meerblick, er kämpft als berittener Offizier in Griechenland, er lebt als Zwangsarbeiter auf deutschen Bauernhöfen. Abenteuerlich ist die Lebensgeschichte, die der neapolitanische Schriftsteller Andrea Giovene erzählt.

Wie ein ferner König herrscht der Vater, mächtig wie ein antiker Gott

Eine erste Auflage musste er auf eigene Kosten drucken lassen. Dann erschien das Werk, vermittelt über die Begeisterung eines schwedischen Kulturjournalisten, in den späten Sechzigern in Italien und wurde in mehrere Sprachen übersetzt - um schnell vergessen zu werden in einer Zeit, als nichts weniger interessant zu sein schien als das Leben süditalienischer Aristokraten (die Ausnahme ist Tomasi di Lampedusas "Der Leopard", erschienen 1958, ein Roman, der auch zunächst nicht wahrgenommen wurde). In Italien wurden die Bücher im Jahr 2012 neu aufgelegt, mit mäßiger Resonanz. Es ist ein kühnes Unternehmen, wenn der Verlag Galiani das Werk jetzt, in der Übersetzung Moshe Kahns, in einer deutschen Übersetzung veröffentlicht: Die ersten beiden Bände sind in diesem Herbst erschienen, die drei weiteren werden im Lauf des kommenden Jahrs folgen.

Eine "Autobiographie" hat Andrea Giovene sein Werk genannt, und tatsächlich ist die Geschichte, die von einem Ich-Erzähler vorgetragen wird, nach Lebensabschnitten in chronologischer Folge gegliedert. Über die Bindung der erzählten an die tatsächlichen Ereignisse indessen schreibt der Autor, er habe "ein Gebäude" schaffen wollen, "das ganz wahr war und ganz fantastisch" sei. Das Wort "Autobiographie" ist also in einem besonderen Sinn zu verstehen: als Entwurf, der sich über eine verlorene Geschichte spannt, in sich konsequent, aber geknüpft an Figuren, Gedanken und Stimmungen, bei denen sich nicht ermitteln lässt, wie real sie waren. Denn diese Welt ist verschwunden. Sie gehörte einer Aristokratie, die ihre hergebrachten Aufgaben im Krieg und bei Hof nicht mehr wahrnehmen konnte und daraufhin vergaß, welche Güter sie besaß und welche Einnahmen sie kontrollierte, die sich in Mesalliancen verstrickte, die sich ausnehmen ließ und die sich selbst betrog, bis in den Ruin und darüber hinaus, und die daraufhin in einem stolzen Fatalismus dem Ende entgegengezogen zu sein scheint, nicht willens und vielleicht auch nicht fähig, auf nur einen Ball zu verzichten.

Die frühe Kindheit verbringt Giuliano in einem weitläufigen Palazzo, der von seinem Vater beherrscht wird, einem Patriarchen, der zwar Architekt geworden ist und einen großen Anteil an der Modernisierung Neapels im späten 19. Jahrhundert hatte (was schon einen halben Verrat an der Klasse dargestellt haben muss), der aber über seine Familie sowie einen weiten Kreis von Verwandten und Standesgenossen herrscht wie ein ferner König, unnahbar, scheinbar unbekümmert um seine Nächsten, doch zuweilen mächtig wie ein antiker Gott.

Zuflucht findet der Knabe, um den sich hauptsächlich das Personal bemüht, in einem Zimmer am tiefen Ende eines langen Flurs. Dort beginnt eine Laufbahn als Hagestolz. Sie wird in einer Klosterschule, einer kalten, kargen Bastion der Kirche oberhalb von Caserta fortgesetzt. Die Rigidität des Ordenslebens, die intellektuellen Ansprüche, das Konzept absoluter Beständigkeit kommen ihm ebenso entgegen wie die Idee eines eisenverstärkten Lineals, das strafend auf die Frostbeule eines Mitschülers niedersaust. Die öffentliche Schule hingegen, die er danach besucht, ist ihm ebenso gleichgültig wie das Studium, auch wenn er zwischendurch beherrscht, was von ihm verlangt wird: Er will nichts werden. Ein wahrer Adliger wird nie ernsthaft einen Beruf ergreifen. Was sollte es Höheres als ihn geben?

Es gehört zu den Eigenheiten einer solchen "Autobiographie", dass sie mehr Chronik ist als Roman: Der Erste Weltkrieg kommt und geht. Die Faschisten wandern durch die Bücher wie lästige Schatten. Aufmerksamkeit liegt hauptsächlich auf dem Privaten, der Leser muss sich viele Namen merken, das Wichtige und das Unwichtige gehen durcheinander, und überhaupt sind die Dinge und Ereignisse von einer fließenden, durchlässigen Art, so wie es ähnlich in Ippolito Nievos "Bekenntnissen eines Italieners" ist, die allerdings schon 1867 veröffentlicht wurden.

Die Chronik ist ein konservatives Genre, und das gilt für dieses Buch in besonderem Maß

Eine Chronik ist Giovenes Buch vor allem, weil es in dieser Geschichte, allen überraschenden Wendungen zum Trotz, keinen echten Fortschritt, keine persönliche Wandlung und erst recht keine Auflösung gibt: Alles, was geschieht, stellt sich als Variation auf etwas Vorhandenes dar. Das "Rad der Dinge" dreht sich, und was unten war, kommt irgendwann nach oben, bevor es wieder nach unten sinkt, nichts zurücklassend als ein Tableau im Stil der jeweiligen Verhältnisse. Die Chronik ist ein konservatives Genre, und das gilt für dieses Buch in besonderem Maß, weil man sich die Dinge und Gestalten, die erhalten werden sollen, kaum mehr vorstellen kann. Sie müssen beschworen werden, mit einer beinahe physischen Intensität, bis sie hervortreten wie der neue Abzug einer alten Fotografie im Entwicklerbad.

Den Stolz behält Giuliano, als er, im Wissen um den nahenden wirtschaftlichen Bankrott der Familie, nach einer vergeblichen, tragischen Liebe und der sozialen Verpflichtungen in Neapel überdrüssig, nach Mailand geht, ohne Geld, ohne Beruf, ohne besondere Kenntnisse: Sich "nur für die kurze Spanne meines Lebens als Gast auf dieser Erde" betrachtend, trifft er "die Entscheidung, meine Jahre ausschließlich damit zuzubringen, Fragen zu stellen und Erkenntnisse zu gewinnen". Er schlägt sich durch, ähnlich wie sich Eugène de Rastignac, der Held in Balzacs "Verlorenen Illusionen", unter Mätressen, Glücksspielern und Polizisten durchschlug, doch ohne dessen Charme und ohne dessen vorübergehenden Erfolg.

Ein wohlmeinender Onkel sorgt dafür, dass er zum Leutnant der Kavallerie ausgebildet wird. Zum zweiten Mal befindet er sich in einer guten, weil rücksichtslosen und nach strengen Regeln geführten Schule, in einer Einheit, in der man weiß, dass man im nächsten Krieg, in der nächsten Schlacht untergehen wird. Das Wesen des Adels, belehrt der Erzähler, sei "eine absolute Herrschaft, doch vor allem eine absolute Selbsthingabe im Augenblick der Gefahr". Die Liebe des Adligen unterliegt, so scheint es, demselben Prinzip, wenngleich die Frauen für die Augenblicke der Hingabe nachher meist größere Opfer bringen müssen, als der Held zu ertragen hat.

Die Übersetzung klingt lebendig, mögen sich die Nebensätze noch so stapeln

Die "Autobiographie des Giuliano di Sansevero" ist ein Buch, in dem der Erzähler überaus gegenwärtig ist. Jeder Augenblick der Geschichte ist ein Augenblick seiner Geschichte: Die eine Tätigkeit, der Giuliano, der zu keinem festen Beruf Taugliche, mit Ernst nachgeht, ist das Schreiben. Und schreiben kann er, mit Pathos, Genauigkeit und einer gewissen Sympathie für die Kunstprosa Gabriele d'Annunzios - und mit einer großen Neigung zum kleinen Essay: Die Erinnerung, notiert er zum Beispiel, sei "vielleicht eine Kugel aus transparenter Materie wie etwa Kristall, doch lebendig in jedem ihrer Moleküle und mit jedem von ihnen in der Lage, sich unter dem Antrieb ihrer Energie zu entfachen". Zahllose solcher Sentenzen gibt es in diesen Büchern, und in vielen von ihnen denkt über das Verhältnis eines Aristokraten zum Rest der Welt nach. "Die moderne Welt lehnte das Prinzip des Geburtsrechts ab", heißt es im zweiten Band, "doch hatte sie dieses Prinzip nicht durch eine befriedigendere Methode der Auslese ersetzt." Nun denn. Moshe Kahn hat diese Sprache jedenfalls in ein Deutsch übersetzt, dass dem italienischen Original an Lebendigkeit und Beziehungsreichtum nicht nachsteht, da mögen sich, bildungsgesättigt und syntaktisch virtuos, die Nebensätze noch so stapeln.

Am Ende des zweiten Bandes will Giuliano eine - wie der Leser ahnt: es wird sie allenfalls vorläufig geben - Ruhe in der Basilikata finden, an einem hohen Berghang zwischen Bäumen über der "Unendlichkeit des Meeres" und in großer Einsamkeit. "Unter meinen Füßen spürte ich eine nicht nur betretene, sondern verstandene und beherrschte Erde, wie es gewiss auch meine Vorfahren getan hatten." Eine weitere junge Frau von berückender Schönheit und Reinheit ist auf dem Weg in den wahren Adel zurückgeblieben. Drei Bücher werden folgen, darunter das "Haus der Häuser", das, ebenfalls von Moshe Kahn übersetzt, als separate Veröffentlichung seit dem Jahr 2010 vorliegt. Die Werke werden, den ersten beiden Bänden nach zu urteilen, abenteuerlich werden und ihren Helden durch die seltsamsten Milieus tragen. Ändern wird er sich nicht.

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