Zum Tod von Andrea Camilleri:Diese schöne, heillos verlorene Welt

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Er lebte bis zu seinem Tod in Rom, kehrte aber in seinen Büchern immer wieder in seine Heimat Sizilien zurück: Der Schriftsteller Andrea Camilleri. (Foto: imago images / Leemage)

Sein Protest gegen Silvio Berlusconi war ebenso unerbittlich wie zuletzt gegen Matteo Renzi. Und auch in seinen Büchern war Andrea Camilleri keiner, der nur zusah.

Nachruf von Thomas Steinfeld

Im April 2013 erschien in Italien eine Ausgabe des Magazins Mickey Mouse - Topolino heißt die Figur in diesem Land -, in dem die Maus mit Freundin Minnie in Urlaub fährt, nach Sizilien. Kaum angekommen, besuchen die beiden die archäologischen Stätten von Agrigent, wo sie einen Kommissar namens Topalbano kennenlernen. Bald werden sie in eine Kriminalgeschichte hineingezogen, in deren Verlauf jener Topalbano alle Eigenschaften entfaltet, die auch Commissario Montalbano, den beliebtesten fiktiven Polizisten Siziliens, auszeichnen: die plötzlichen Eingebungen, die Liebe zu regionalen Speisen, zum Dialekt und zur Literatur (im Italienischen spricht er sizilianisch-literarisch), den launigen Charakter und die Heimatverbundenheit.

Es dauert nicht lange, bis in dieser Bildergeschichte auch der Autor der Geschichten um jenen Kommissar auftritt, ein älterer Herr mit einer fast blinden Brille und einem ausladenden Bauch, in dem Andrea Camilleri auf den ersten Blick zu erkennen ist.

An dieser Ausgabe des Topolino lässt sich nicht nur ablesen, wie volkstümlich Andrea Camilleri in Italien war, sondern auch, wie weit die Register gespannt waren, in denen er sich bewegte - von der griechischen Antike bis zur amerikanischen Populärkultur.

Ironie zog Andrea Camilleri der Parole stets vor

In den Fünfzigern war er der erste Theaterregisseur gewesen, der Samuel Beckett auf einer italienischen Bühne spielen ließ, in den Sechzigern arbeitete er als Produzent beim Staatsfernsehen, kümmerte sich um Vorabendserien und ließ die Romane George Simenons verfilmen. Daneben schrieb er Kritiken und unterrichtete an einer nationalen Theaterhochschule. Er war bekennender Kommunist (solange es den PCI gab), ein Schauspieler, der gern den komödiantischen "buffo" gab, Drehbuchautor und bis zu seinem Tod einer der wichtigsten öffentlichen Intellektuellen Italiens: In seinem Protest gegen Silvio Berlusconi war er genauso unerbittlich wie in seinem Widerstand gegen das Referendum, mit dem Matteo Renzi im Dezember 2016 die Verfassung ändern wollte, oder in seinem offensiven Missvergnügen an Matteo Salvini ("ich möchte mich übergeben") und der Allianz mit der Fünf-Sterne-Bewegung, wenngleich Camilleri als Mittel des politischen Ausdrucks die Ironie stets der Parole vorzog.

Und selbstverständlich ist sein Commissario Montalbano auch die Allegorie eines Staatsidealismus, in dem sehr viele Italiener eine bessere Variante ihrer selbst zu erkennen meinen: Nachdem er vor vier Wochen nach einem Herzinfarkt in ein römisches Krankenhaus eingeliefert worden war, wurde das Internet wie die Netzausgaben der großen Zeitungen entsprechend von einer Welle aus Sympathieerklärungen und Beistandswünschen überschwemmt.

Andrea Camilleri verbrachte den größten Teil seines Lebens in Rom. Er blieb aber auch dort ein Sizilianer. Immer wieder kehrte er in seinen Büchern auf die Insel zurück, wo er - in Porto Empedocle bei Agrigent - geboren worden war, sowie seine Kindheit und Jugend verbracht hatte, als Sohn eines faschistischen Funktionärs. Die Invasion der Alliierten wurde für ihn eine höchst zwiespältige Erfahrung, mehr eine Besetzung denn eine Befreiung, wovon nicht nur mehrere Werke der Serie um Commissario Montalbano zeugen (etwa "Der Hund aus Terracotta", 2000), sondern auch ein historischer Roman wie "Der zerbrochene Himmel" (2005), ein Buch, das von einem bald ausgesprochen gewalttätigen Jungen handelt, wobei das eigentliche Opfer der Misshandlung nicht das Kind ist, sondern eine ganze Kultur, in der jedes Wort kompromittiert ist.

Der Faschismus und die katholische Kirche, die Mafia und der Staat gehen bruchlos ineinander über, und der Schriftsteller wirkt in dieser schönen, aber auch heillos verlorenen Welt eher als Chronist aus dem Milieu denn als Erzähler - als einer, der dieses Verhängnis nicht nur wissend betrachtet, sondern darin tief verwurzelt ist.

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In "Der zerbrochene Himmel" verbirgt sich eine Replik auf eine Satire des Schriftsteller Carlo Emilio Gadda, nämlich "Eros und Priapus" (1945) - der derben, oft den Dialekt benutzenden Sprache wegen ebenso wie um des Versuches willen, sich intellektuell vom Faschismus zu lösen. Von Luigi Pirandello, der aus derselben Gegend stammte wie er, ließ Camilleri sich nicht nur im Umgang mit regionalen Legenden, sondern auch im Verwirrspiel der Figuren unterweisen. Mit Leonardo Sciascia, der in den frühen Sechzigern den gesellschaftskritischen sizilianischen Kriminalroman erfunden hatte, war er befreundet.

Andrea Camilleris Bücher erschienen vorwiegend im Verlag des Fotografen Enzo Sellerio aus Palermo, dessen Schwarz-Weiß-Fotografien aus einem vergangenen Sizilien in die italienische Ikonographie eingingen. Die Werke des Autors, die nicht als Kriminalromane gelten (obwohl sie kriminalistische Elemente enthalten), spielen vor allem im Sizilien des 19. Jahrhunderts, etwa "Eine Sache der Ehre" (1984/1993) oder "Die Mühlen des Herrn" (1999). Aber es war schließlich der Kriminalroman, genauer: die Serie um Commissario Montalbano, der ihn zuerst in Italien, dann in der halben Welt zu einem sehr erfolgreichen Schriftsteller machte.

Kommissar Montalbanos beinahe magische Intuition

Wie in anderen europäischen Ländern auch, war der Kriminalroman in Italien in den Neunzigern zum beherrschenden literarischen Genre geworden. Das muss nicht den Triumph des Trivialen bedeuten: Schon Umberto Ecos "Der Name der Rose" (1980) war ein Kriminalroman, um von Leonardo Sciascias Werken gar nicht erst anzufangen. Zudem liegt der Fall bei Andrea Camilleri anders, weil das Terrain seiner Schauplätze den Eigenarten eines Kriminalromans weit entgegenzukommen scheint - eine Insel mit einer Gesellschaft, die völlig undurchdringlich wirkt, wenn man ihre Regeln nicht kennt, und in der ein Detektiv eine Sprache verstehen muss, die weniger gesprochen wird, als dass sie sich in kleinsten Wendungen und Gesten artikuliert.

Entsprechend besitzt Kommissar Montalbano eine beinahe magisch erscheinende Intuition, während das Verbrechen immer wieder wie ein Akt der Rebellion in einer Umgebung erscheint, in der Wahn und Normalität eng nebeneinander liegen.

In der Geschichte "Die Stimme der Violine" (1997) begegnet Commissario Montalbano einmal wieder Signorina Clementina, der Grundschullehrerin. Als der Detektiv sie fragt, ob sie Kriminalromane lese, antwortet sie, dass ihr das Etikett nicht gefalle. Dann erzählt sie in wenigen Sätzen die Geschichte des Ödipus: Da habe es einst den "capo di una città" gegeben, den Hauptmann einer Stadt, die von einem Unglück nach dem anderen heimgesucht worden sei. In diesem Sinne wird Andrea Camilleri den größten Teil seines Schaffens verstanden haben: als den Versuch, einer in sich vielfach differenzierten und tief in die Vergangenheit zurückreichenden Welt Ausdruck zu verleihen, der durch zwei Motive zusammengehalten wird: durch Sizilien und durch die Suche nach dem Verbrecher. Am Mittwoch ist Andrea Camilleri im Alter von 93 Jahren in Rom gestorben.

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