André Dhôtel: "Bernard der Faulpelz":Gesellschaftskritik durch Gleichgültigkeit

André Dhôtel: "Bernard der Faulpelz": "Scharf wird der Blick, wenn er nichts Bestimmtes sucht." - Anne Weber.

"Scharf wird der Blick, wenn er nichts Bestimmtes sucht." - Anne Weber.

(Foto: Helmut Fricke/picture alliance/dpa)

Ist André Dhôtels Werk gegenwärtiger als das von Jean-Paul Sartre?Anne Weber hat es nun übersetzt. Ein Gespräch.

Von Joseph Hanimann

In Deutschland ist der 1991 gestorbene französische Autor André Dhôtel wenig bekannt. Peter Handke hält sein Werk für gegenwärtiger als das von Jean-Paul Sartre, François Mauriac oder selbst Albert Camus. Mauriac sah in ihm "den Schöpfer der sonderbarsten all unserer Romanwelten". Sie zu beschreiben, ist ein Ding der Unmöglichkeit. Hier ein Versuch, es mit der Romanautorin Anne Weber, Übersetzerin von Dhôtels 1952 erschienenem Roman "Bernard der Faulpelz", trotzdem zu tun.

SZ: Geheimtipp, Entdeckung, Offenbarung - das sind so Worte, die leicht dahergesagt sind. Wie kamen Sie auf diesen Autor?

Anne Weber: Mein Schwiegervater, der Dichter Philippe Jaccottet, war mit André Dhôtel seit den Vierzigerjahren befreundet und sprach oft bewundernd von ihm. Ich begann dann vor ein paar Jahren, ihn zu lesen, etwa gleichzeitig mit Peter Handke. Und wir waren beide sofort sehr angetan von ihm, es ist ein ungeheures Leseglück. Ich sagte mir, das möchte ich gern übersetzen.

Was ist für Sie das Besondere an ihm?

Dass er immer wieder in Erstaunen versetzt. "Das Wunder der sichtbaren Welt" ist ein Zitat von La Bruyère, das als Motto vor einem seiner Romane steht, aber für alle gelten könnte. Alles erscheint wie neu, die Dinge zeigen sich wie von ihrer Rückseite her. Figuren, Situationen und Stimmungen wenden sich in ihr Gegenteil. Oder vielmehr: Sie tragen dieses von Anfang an in sich. Hass verkehrt sich in Liebe, Eigensinn tarnt sich als Höflichkeit. So tut sich hinter der scheinbar einfachen Erzählung eine Wirklichkeit auf, die einem gleich wieder entwischt.

Dabei gibt es sehr wohl eine nacherzählbare Handlung, auch in diesem Roman.

Gewiss, doch ist damit wenig gesagt. Die Hauptfigur ist ein junger Mann namens Bernard Casmin. Er lebt in einem französischen Provinzstädtchen. Verwandte bieten ihm Unterkunft und besorgen ihm eine Stellung. Er begegnet einer jungen Frau, und nun passiert etwas, was man "Hass auf den ersten Blick" nennen könnte, jedenfalls scheint es so. Der junge Mann verliert darüber seine Stellung, und es geht mit ihm, sozial gesehen, immer weiter bergab. Das Ganze läuft auf ein schlimmes Ende zu. Oder ist es vielleicht gar nicht schlimm? Es hat etwas von einem unausweichlichen Naturereignis.

Schon die im Titel genannte Eigenschaft der Faulheit wirkt verwunderlich. Denn dieser "Faulpelz" ist permanent unterwegs, kurvt mit dem Motorrad durch die Gegend, durchquert Wälder, erklimmt Berghöhen.

Er ist keineswegs ein Müßiggänger, faul ist er eher im Sinn einer Trägheit hinsichtlich seiner gesellschaftlichen Stellung. Sozialer Ehrgeiz geht ihm vollkommen ab. Das Wort "Faulpelz" ist deshalb nicht unbedingt die ideale Übersetzung, aber "träge" hätte erst recht nicht gepasst. Dieser Bernard läuft durch die Welt, ohne etwas Bestimmtes zu suchen, aber mit einem stets offenen Blick. Diese wache Losgelöstheit von jedem konkreten Ziel kann man vielleicht auch als eine Art Weisheit verstehen. Es gibt im Buch eine eindrückliche Stelle, wo Bernard im Gras liegend den Blick ziellos über die Landschaft schweifen lässt und in einer Felsspalte plötzlich ein ihn beobachtendes Auge erkennt, das eines Wildhüters. Scharf wird der Blick, wenn er nichts Bestimmtes sucht, könnte man bei Dhôtels Figuren sagen.

Die seltsame Hassliebe zwischen Bernard und der jungen Estelle wird im französischen Text als ein "coup de foudre à l'envers", ein umgekehrter Blitzschlag bezeichnet. Sie übersetzen das mit "umgekehrte Liebe auf den ersten Blick".

"Coup de foudre" ist auf Französisch ein sehr gängiger Ausdruck, wie eben die deutsche "Liebe auf den ersten Blick". Was mich bei Ausdrücken wie "Blitzschlag" oder "Liebesblitz" gestört hätte, wäre der Effekt einer bildhaften Poetisierung. André Dhôtel ist ein wunderbarer Erzähler mit einem natürlich fließenden dichterischen Unterton. Man muss beim Übersetzen aufpassen, seine Prosa nicht zusätzlich zu poetisieren.

Das trifft wohl auch für die ganz eigene Stimmung in seinen Romanen zu, die sich aus der stets genauen und sachlichen Beschreibung der Landschaften, Straßen, Pflanzen, Gewässer ergibt, zwischen denen sich die Figuren bewegen und in denen man die Ardennen zu erkennen glaubt.

Ich weiß, dass die Ardennen für ihn persönlich wichtig waren. Als Leserin erscheint mir das aber eher sekundär. So präzise die Dinge beschrieben sein mögen, zeigt die Geografie in seinen Romanen eine gewisse Unschärfe. Die Ortsnamen sind fiktiv, und es gelingt dem Autor, aus der jeweils konkret geschilderten Topografie ein spezifisches Irgendwo zu machen. Insofern sind seine Bücher alles andere als Heimatliteratur. Das Einzige, was man sagen kann, ist, dass seine Geschichten nicht in Extremlagen spielen, nicht auf hohen Bergen oder am Meer, sondern immer in den Mittellagen. Dem entspricht die Schlichtheit seiner Darstellung. Man sollte dieser aber nicht auf den Leim gehen, denn das Dargestellte ist komplexer, als es erscheint. Beim Lesen drängt sich der Eindruck auf, diese Figuren lebten in einer erweiterten Welt und hätten einen Sinn für Dinge, die nur für sie wahrnehmbar sind.

Peter Handke spricht in seinem Vorwort von der "Gestalt klar umrissener Rätsel".

Das finde ich eine besonders schöne Formulierung. Das Gegenteil von nebulös.

Auf den ersten Blick geht diesem Autor auch jede politische Dimension ab. Dhôtel lebte zurückgezogen und mischte sich nicht in öffentliche Debatten ein. Dennoch gerät Bernard in ein Milieu obskurer Gesellen, die ihn in ihre Machenschaften "gegen die da oben" hineinziehen wollen.

Der Roman enthält keine direkte Gesellschaftskritik. Es entsteht aber ein Bild von Gesellschaft, und die ist wenig sympathisch. Sie ist geprägt von Ehrgeiz, Erfolgsstreben, Sozialstatus, Gerüchten und übler Nachrede. Bernard, dieser immer höfliche Mann, wird von ihr zusehends geächtet. Er ist ein Außenseiter, der da nicht hineinpasst. Er will keinen besseren Posten oder höheren Lohn, will nicht dazugehören, macht daraus aber kein Prinzip. Er will einfach nur in Ruhe gelassen werden. Das ist auch eine Art von Gesellschaftskritik, vielleicht sogar eine viel radikalere Form. Eine Gesellschaftskritik durch Gleichgültigkeit oder durch Dissidenz.

Dhôtel gehörte keiner literarischen Schule an und hielt sich den Bewegungen fern. Ähnlich wie die Autoren des Nouveau Roman sprengte aber auch er das konventionelle Erzählen, indem er seinen Ablauf von innen aushöhlte.

Mit dem Unterschied allerdings, dass er dafür keine Theorie brauchte. Er erzählte Geschichten, wenn auch auf unkonventionelle Weise. Das macht sein Werk unabhängig von literarischen Moden oder Bewegungen und erklärt vielleicht auch, warum so unterschiedliche Leute sich für ihn interessierten wie Maurice Blanchot, sein Lektor Jean Paulhan, Philippe Jaccottet oder heute Peter Handke.

André Dhôtel: Bernard der Faulpelz. Roman. Mit einem Vorwort von Peter Handke. Aus dem Französischen von Anne Weber. Matthes & Seitz, Berlin 2022. 282 Seiten, 24 Euro.

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