Süddeutsche Zeitung

Ungarische Literatur:Nocken und  Haken 

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Timea Tankós fabelhafte Übersetzung der kleinen, wundersamen Erzählungen des ungarischen Klassikers Andor Endre Gelléri.

Von Insa Wilke

Der Guggolz Verlag hat ein unverwechselbares Markenzeichen: hervorragende Übersetzungen. So hat Sebastian Guggolz sein Berliner Zwei-Personen-Unternehmen inzwischen etablieren können, mit dem er 2014 angetreten ist, bedeutende Autorinnen und Autoren der europäischen Literaturgeschichte wieder aufzulegen und mit seinen sorgfältig ausgestatteten Ausgaben nicht dem Aktualitätsdruck der Branche, sondern den eigenen Überzeugungen zu folgen. Mit dem Erzählungsband "Stromern" von Andor Endre Gelléri in der warmherzigen, angstfreien Übersetzung von Timea Tankó hat er das wieder unter Beweis gestellt.

Schon 2015 nahm Guggolz den ungarischen Schriftsteller ins Programm, mit seinem ebenfalls von Tankó übersetzten Roman "Die Großwäscherei" aus dem Jahr 1931. Er spielt in der "Dampfwäscherei Phönix" und erzählt vom unheilvollen Gewimmel des Viertels, von 14jährigen "Kragenwaschmädchen", die wie "verwunschene Zwerge nicht mehr wachsen", von freundlichen Schaufelstielen und einem Heizer, der von der Revolution in China träumt.

Tankó erklärt im Nachwort des Romans, warum es heikel ist, Gelléri angemessen ins Deutsche zu übersetzen: Er liebte Personifikation und Übertreibung. Ein Treppenhaus tritt bei ihm "erschöpft" auf, ein Hobel "sanftmütig" und die Nägel "glänzen". Solche Verfahren sind spätestens seit Gottfried Benns Forderung, das Sprachmaterial kalt zu halten, als kitschig und naiv verschrien. Tankó nimmt Gelléris attributive Helferlein trotzdem "dankbar" in Dienst und trägt sie einfach "so lange in den Taschen", bis er im Deutschen "den richtigen Platz" für sie gefunden hat. In Disneys Weihnachtsfilmen landet man mit Gelléri und Tankó also nicht, obwohl beide den Dingen auch in "Stromern" wieder kräftiges Leben einhauchen.

"Der Webergeselle", die erste Geschichte des Bandes, geht dabei gleich aufs Ganze und zeigt Gelléri als meisterhaften Erzähler, der vorführt, wie ein dunkler Raum, "der nur den Spinnen als Wohnung" diente, allein durch Vorstellungs- und Arbeitskraft in ein Paradiesgärtlein verwandelt werden kann. Gelléri lässt alle daran beteiligten Arbeiter nacheinander auftreten, vom Maurer in kunterbunter Hose über den Kutscher mit Ganovenfratze bis zum Kohlenmann und dem Elektriker in Lederjacke. Unter ihren Händen entstehen "Wände aus gefrorener Milch" und die Sterne ziehen ein in die dunkle Spinnenhöhle, sodass der Webergeselle zu guter Letzt das Wunder der Verwandlung vollenden kann: mit Krawattenseide. Im Angesicht so verschwenderischen Lebens, verzieht selbst die Zange ihr Gesicht nicht mehr mürrisch.

Dieses Hohelied auf die magische Kraft der kollektiven Arbeit in einer mitteleuropäischen Großstadt ist aber keine Vorlage für einen sowjetischen Propagandafilm, sondern zeigt die Arbeiterfiguren mit ihrem Können, ihren Wünschen und Träumen.

Von heute aus betrachtet, ist diese kleine wundersame Erzählung auch eine Absage an den Geniekult einer Leistungsideologie, die damals ihren Anfang nahm, wie die Historikerin Nina Verheyen in ihrem Buch "Die Erfindung der Leistung" gerade gezeigt hat. Das weniger prächtige "Land der Armen" und die Hackordnung, die am Ende nur das Unglück aller zutage treten lässt, entwirft Gelléri in seinen aus den Jahren 1924 bis 1942 stammenden Erzählungen aber auch.

Wenn Gelléri von den "ungezieferartigen Wesen" im Armenviertel, von "Grind und Eiterflechte" schreibt, ist dies immer deutlich der Blick der Bessergestellten, die den Ärmeren nicht auf Augenhöhe, sondern mit "Güte" begegnen. "Der Webergeselle" am Anfang des Bandes macht klar, welchen Blick Gelléri dagegen für den angemessenen hält. Er selbst wurde 1906 als Sohn jüdischer Eltern geboren. Sein Vater führte eine Geldschrankschlosserei, die in einer der Erzählungen ebenso eine Rolle spielt wie das Ziegeleigelände, auf dem die Großeltern lebten, und auf dem Gelléri nach eigener Aussage seinen "sozialen Blick" entwickelte.

Am produktivsten war er in den Jahrzehnten vor dem Krieg, in denen die Arbeiterliteratur zu großer, vielfältiger Form auflief und das Elend im Windschatten der Weltwirtschaftskrise besonders groß war.

Das traf auch Gelléri, der sich von Stelle zu Stelle hangelte, bis 1942 die Gesetze in Kraft traten, die Leute wie ihn, Juden, zunächst zum Arbeitsdienst zwangen und dann offen in den Tod schickten. 1944, im Jahr der deutschen Besetzung Ungarns, wurde Gelléri deportiert, dann auf den Todesmarsch nach Mauthausen geschickt, wo er nach der Befreiung 1945 mit 39 Jahren starb. Vom Schicksal seiner Frau und Kinder erfährt man im Nachwort von György Dalos nichts.

Sucht man nach Wahlverwandten im Spektrum der Arbeiterliteratur der Zeit, so findet man sie weniger bei Bertolt Brecht als in Veza Canettis Figuren aus der "Gelben Straße" in Wien. Gelléris Neigung zum Grotesken erinnert an Canetti, allerdings mit dem Unterschied, dass er die Welt der Arbeiter mit Empathie betrachtet und magisch überhöht, was die Kritiker der Zeit als "feenhaften Realismus" missverstanden, wie Timea Tankó im Nachwort zu "Die Großwäscherei" schrieb.

Um ein Missverständnis handelt es sich, weil diese Schreibweise weniger mit Sternenstaub und Zauberwesen zu tun hat, als mit den kleinen, traurigen Momenten des Glücks, wie in Gelléris erster Erzählung "Ich möchte Trompete spielen", die er mit nur 18 Jahren schrieb. Was als magisch wahrgenommen wird, ist schlicht die ernst genommene Bedeutung der Dinge, wenn sie fehlen, wie dem glück- und arbeitslosen István Pettersen in "Haus im Gelände", oder wenn sie in der Arbeitswelt über die Menschen herrschen.

Gelléri selbst warf sich vor, nicht radikal genug zu sein: "Warum bin ich ein geheimer Revolutionär, ein risikoloser Kommunist?" Doch war sein Versuch, durch seine schicksalsergebenen Figuren die "Revolution in ihrer unfertigen Form zu zeigen", in einer Zeit, in der "selbst die Arbeitenden so sehr" hungerten, "dass für die Träumer nichts mehr übrig blieb", durchaus risikoreich. Diese einzigartig funkelnden Erzählungen sollten die Erinnerung wach halten an einen Autor, der das Leben im Schreiben nie aufgegeben hat.

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SZ vom 16.01.2019
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