Serie "Stimmen der Demokratie":Die Menschen retten, nicht den Kapitalismus

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Manifestierte Rassengrenze: Ein Soldat installiert an der Grenze zwischen den USA und Mexiko Stacheldraht. (Foto: Ramon Espinosa/dpa)

Für die Urbanistin Ananya Roy ist unsere Gegenwart nicht nur eine der Ausbeutung, des Rassismus und der Grenz-Todeszonen - sondern auch die Zeit für Freiheitsträume und radikale Erneuerung.

Gastbeitrag von Ananya Roy

Im Herbst 1940 bat der britische Radiosender BBC den deutschen Literaturnobelpreisträger Thomas Mann, in seinem kalifornischen Exil kurze Radiovorträge zu verfassen, die sie nach Nazi-Deutschland sendeten. 55 Ansprachen verfasste Mann bis Kriegsende. Der Trägerverein der Begegnungsstätte Thomas Mann Haus in Los Angeles hat die Idee der Radioansprachen wieder aufgenommen und veranstaltet eine Reihe mit Ansprachen für die Demokratie, die die SZ abdruckt und der Deutschlandfunk sendet.

Wir leben in Zeiten krasser sozialer und wirtschaftlicher Ungleichheit. Auf der ganzen Welt häufen Reiche und Mächtige ihre Vermögen an und tragen zur Ausbeutung und Verarmung marginalisierter Gesellschaftsgruppen bei. Diese Ungleichheit ist vor allem in den Städten zu sehen. In Los Angeles werden unweit des Thomas Mann Hauses und der University of California Häuser im Wert von 500 Millionen Dollar in die Hügel von Bel Air gebaut, während Tausende obdachlose Menschen auf der Straße leben und sterben. Diese Ungleichheit ist aber nicht bloß ein Missverhältnis des Einkommens. Sie ist eine anhaltende Folge der Rassentrennung, ein Ausdruck der color line.

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"Das Problem des 20. Jahrhunderts", schrieb der Soziologe W. E. B. Du Bois, "ist das Problem der color line." Seine Aussage begleitete eine Reihe außergewöhnlicher Infografiken, die er und seine Studierenden für die Pariser Weltausstellung 1900 erstellt hatten. Um die orientalistischen Zurschaustellungen zu kritisieren, von denen solche Kolonialmessen gewöhnlich dominiert wurden, zeigte Du Bois detaillierte Statistiken und Beispiele für die Unterdrückung der Schwarzen in den USA. Anhand der Routen des afrikanischen Sklavenhandels, die der Historiker Paul Gilroy später als "Schwarzen Atlantik" bezeichnen würde, ordnete Du Bois sie in ein globales System des rassischen Kapitalismus ein.

Es ist kein besonderes Wagnis, zu behaupten, dass das Problem des 21. Jahrhunderts das fortwährende Problem der color line ist. Wir leben in der Ära eines neu erstarkten Rechtsnationalismus. Von Indien bis Brasilien, von Europa bis in die USA, ist der Ausländerhass zum festen Bestandteil der Strukturlogik von Staatsmacht und Regierungskunst geworden.

Demokratie ist keine Garantie, Freiheit ein Geschenk

Besonders sichtbar ist die color line in ihren gewaltsamen Formen: der Tötung von Schwarzen, den Lynchmorden an Muslimen, dem Einsperren von Menschen in Käfigen - und vor allem an den militarisierten Grenzen entlang Wüste und Meer, die zu geisterhaft-grässlichen Landschaften des Todes geworden sind. Diese tödlichen Orte - Übergänge, die mutwillig in Todeszonen verwandelt worden sind - bewachen heute die Festung Europa und das amerikanische Homeland. Die color line ist somit nicht nur eine Landkarte der Segregation und des Ausschließens, sondern auch eine Stätte des Todes, eine Negierung der Menschlichkeit. Oder, wie die Lateinamerikaforscherin Lisa Marie Cacho es nennt: eine "racialized rightlessness".

Ananya Roy ist Professorin für Entwicklung und Urbanismus an der University of California in Los Angeles. (Foto: UCLA)

All dem zum Trotz möchte ich anlässlich des Gedenkens an Manns Radioansprachen ein Plädoyer für radikale Demokratie halten. Während einer Vortragsreise durch die USA sprach Mann 1938 nicht nur vom Faschismus, sondern auch vom "zukünftigen Sieg der Demokratie". In jenen dunklen Zeiten schwebte Mann "die soziale Erneuerung der Demokratie" vor. Er glaubte, dass "Europa, die Welt reif für den Gedanken einer umfassenden Reform der Besitzordnung und der Güterverteilung" seien. In ebenjenem historischen Moment imaginierte auch Du Bois die Rekonstruktion der amerikanischen Demokratie, indem er 1935 den langen Kampf gegen die Sklaverei nachzeichnete und den Traum von emanzipierten Arbeitsverhältnissen und der Umverteilung von Eigentum und Einkommen in den Vordergrund rückte. Diese Träume waren, wie der Historiker Robin D. G. Kelley sie nennt, "Freiheitsträume".

Ich behaupte, dass unsere Zeit nicht nur eine der Ausbeutung und Exklusion sowie der Extraktion von Arbeitskraft ist, sondern auch eine der Freiheitsträume. In den USA hat das Trump-Regime die Idee einer weißen Vorherrschaft gefüttert und institutionalisiert, wodurch gleichzeitig eine solide nationale Diskussion über Reparationszahlungen an Schwarze entstanden ist. Wie Kelley in seinem Buch "Freedom Dreams" schreibt, geht es bei der Frage um Reparationen grundlegend um schwarze Selbstbestimmung, wozu auch autonome Institutionen und Räume gehören.

Während in den USA die neoliberale Umstrukturierung des Hochschulsystems zu einer gigantischen studentischen Verschuldung von 1,5 Billionen Dollar geführt hat, ist gleichzeitig das politische Interesse gestiegen, studentische Schulden zu annullieren und die Hochschulbildung allen zugänglich zu machen. Und während die systematischen Ausquartierungen von Mietern in die Höhe schießt, wird auch der Ruf nach einem ambitionierten Plan für den sozialen Wohnungsbau innerhalb des Green New Deal sowie der Einführung einer nationalen Mietpreisbremse laut.

Bei diesen Maßnahmen geht es um Umverteilung und Dekommodifizierung. Auf dem Spiel steht die Resozialisierung der zentralen Infrastrukturen unserer Lebenswelten, etwa gerechtes Wohnen und Bildung. Gerade in Europa ist das derzeit zu sehen, wenn Bewegungen von Barcelona bis Berlin für Mieterrechte streiten und die Enteignung und Verstaatlichung des Eigentums globaler Banken und Immobilienkonglomerate fordern. Thomas Mann war seinerzeit daran interessiert, dem Demokratiebegriff eine allgemeine Bedeutung zu geben, eine viel allgemeinere als jene, die der politische Aspekt des Wortes suggeriere. Ich bezeichne diese allgemeinere Bedeutung als radikale Demokratie - und der Schlüssel zu ihr sind die Prozesse der Resozialisierung.

Radikale Demokratie wird angetrieben von rigorosen intellektuellen Visionen und globalen Theorien

Meine Theorie der radikalen Demokratie beruht auf zwei miteinander verwandten Ideen. Die erste besagt, dass die Freiheitsträume, die die Rekonstruktion der Demokratie animieren, nicht von elitären Institutionen oder staatlicher Macht ausgehen. Sie entstehen vielmehr in Kollektivhandlungen, die aus dem Umstand gemeinsamer Prekarität hervorgehen - in Stätten "organisierter Verlassenheit", einer Formulierung, die ich mir von der abolitionistischen Forscherin Ruth Wilson Gilmore leihe, um auf "verlassene Orte" hinzuweisen. Der demos der radikalen Demokratie ist nicht die Wählerschaft, sind nicht die politischen Parteien, Denkfabriken, Stiftungen oder Universitäten. Der demos der radikalen Demokratie besteht aus Mietervereinen, Schuldnerverbänden, schwarzen Zukunftsbewegungen, Bündnissen für Tagelöhner und Hausangestellte, Organisationen für die Rechte von Immigranten und Asylsuchenden, Koalitionen aus Ausquartierten und Landlosen, Netzwerken des indigenen Widerstands. Demokratie ist keine Garantie. Freiheit ist ein Geschenk. Gerechtigkeit ist keine Erbschaft. Radikale Demokratie muss in jedem historischen Moment, inklusive dem unseren, aufs Neue gefordert und geschaffen werden.

Die zweite Idee lässt sich auf die aristokratische Eigenschaft der Demokratie zurückführen, mit der Thomas Mann in seinem Essay "Vom zukünftigen Sieg der Demokratie" rang, als er schrieb, dass in einer Demokratie, die das intellektuelle Leben nicht respektiert und sich nicht von ihm leiten lässt, die Demagogie freies Spiel habe. Lange haben wir angenommen, dass dieses intellektuelle Leben etablierten und elitären Institutionen entspringt. Die radikale Demokratie, von der ich träume und deren Entstehen ich gerade überall beobachte, wird angetrieben von rigorosen intellektuellen Visionen und globalen Theorien. Oft entstehen sie an vergessenen Orten. Anspruchsvolle Konzeptionen von Eigentum und Miete, von Schulden und Spekulation, von Anlagegütern und Sozialhilfe, von Einkommen und Profit wachsen heute innerhalb von gesellschaftlichen Bewegungen. Robuste Denkgerüste für Zugehörigkeit, Recht und Zuflucht stammen heute von Hip-Hop-Musikern, inhaftierten Künstlern und Grenzaktivistinnen. Radikale Demokratie benötigt daher nicht nur eine Resozialisierung der Infrastrukturen unserer Lebenswelten, sondern auch eine neue Wertschätzung von subalternem und unterdrücktem Wissen.

In der Geschichte der Moderne bestand die liberale Demokratie lange aus dem Bestreben, den rassischen Kapitalismus aufrecht zu erhalten, indem nur seine gröbsten räuberischen Eigenheiten abgemildert wurden. Die radikale Demokratie findet ihre Inspiration hingegen in einer Frage des Philosophen Walter Mignolo: "Warum sollten wir den Kapitalismus retten wollen und nicht die Menschen?"

Aus dem Englischen von Cornelius Dieckmann

© SZ vom 27.11.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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