Amy Winehouse 2007: Impressionen von Auftritt:Verraten und verkauft

Sie lallte nicht wirklich. Aber die Zunge war schwer. Für Amy Winehouse war einer ihrer Auftritte vor vier Jahren in London ein Desaster, für das deutsche Kamerateam hingegen ein seltener Einblick. Denn kein Manager beschützte die hilflose Sängerin.

Björn Staschen

Der Abend klang feucht und kühl aus, als sich in Westlondon die ersten Menschen in die Schlange stellten. Rote Buchstaben leuchteten auf einer weißen Tafel. Sie kündigten Amy Winehouse an, auf dem Höhepunkt ihrer Karriere. Ihr zweites Album "Back to Black" stand in den USA und Großbritannien auf Platz eins der Charts. Nun folgten zwei ausverkaufte Shows im Shepherd's Bush Empire, einer Art Hohetempel der britischen Popgeschichte. In den fünfziger Jahren zeichnete die BBC hier Petula Clark, Shirley Bassey und Cliff Richards auf. Wer seine Eltern oder gleich das gesamte Establishment beeindrucken will, tritt hier auf. Amy tat genau das mit nur 24 Jahren.

File photo of British singer Amy Winehouse drinking during her performance at 'Rock in Rio' music festival in Lisbon

Der Alkohol war aus ihrem kurzen Leben fast nicht mehr wegzudenken. Immer wenn die Musik verstummte und Winehouse ein Glas an die Lippen hob, stürzte sie aus dem Universum ihrer künstlerischen Kraft ins graue Leben.  

(Foto: REUTERS)

Während vor dem Shepherd's Bush Empire die Schlange wuchs, wartete im Gebäude ein deutsches Kamerateam. Eine Angestellte von Amy Winehouses Plattenfirma Universal lief hektisch hin und her: Man wartete schon fast zwei Stunden. Irgendwann verschwand sie, weil andere Termine lockten. Amy könne das Interview schließlich auch allein führen.

Schließlich betrat Winehouse den Raum. Allein, kein Berater, kein Manager an der Seite. Unsicher auf den Beinen, offensichtlich betrunken und anderweitig berauscht. Kein Bienenstock türmte sich auf ihrem Kopf wie sonst, die Haare fielen auf die schmalen Schultern unter einer silbergrauen Strickweste. Eine Hand wurde ohne jeden Druck geschüttelt. Kein Blick in die Augen des Gegenübers, Winehouses Make-up verbarg ihr Gesicht. Dicke, schwarze Linien zogen die Augenwinkel nach oben, die weiße Haut, die am Haaransatz hervorschien, war noch blasser als die Schminke.

Winehouse rauchte, als die Kamera lief. Sie stamme doch aus einer musikalischen Familie? Wieso das, ätzte sie, wieso solle sie über ihre Familie reden? Ihre Großmutter sei mit Ronnie Scott ausgegangen, dem Gründer des legendären Londoner Jazz-Clubs? Kann schon sein, meinte sie. Ihre Augen wanderten ohne Unterlass durch den Raum. Über ihre Musik gebe es nichts zu sagen, die könne man sich ja anhören, meinte Winehouse. Über ihr Leben wolle sie auch nicht reden. Nicht abgebrüht, sondern abgemeldet: Sie wirkte fahrig, hörte nicht zu, verlor den Faden ihrer Antworten. Winehouse hielt sich angestrengt auf dem Barhocker, bog sich nach links und rechts, als wollte sie aus dem Blickfeld verschwinden. Mitten im Satz verstummte sie mehrmals. Ein Desaster für Amy Winehouse, für das Kamerateam ein seltener Einblick: live im Bild, sendbar.

Das Management hatte erlaubt, dass die Journalisten Amy Winehouse nach dem Gespräch in die Maske folgen dürften. Unüblich in einer Branche, die jedes Bild, jeden Satz, jeden öffentlichen Auftritt kontrolliert, weil das Image den Wert ihrer Marken bestimmt und nur wenige Stars ihr Image im Griff haben.

Doch auch zum Ende des Interviews war ihr Manager nicht zu sehen, und Amy Winehouse wusste nichts von der Absprache. Zu betrunken, um nein zu sagen, lief sie weg, panisch. Absurde Bilder von einer geisterhaften Amy Winehouse, die durch die Ränge des Shepherd's Bush Empire stolperte. Immer wieder drehte sie sich um und fragte in die Kamera: "Wieso tun Sie das?" und "Dürfen Sie das?". Schließlich entschwand sie auf eine Damentoilette. Noch ein Desaster. Sendbar. Kein Manager weit und breit.

Einfach laufen lassen

Auch den gesamten Soundcheck durfte das Kamerateam filmen, inklusive aller Pannen. Auch das unüblich. Ein fülliger Mann mit schwarzer Haut und schwarzen Haaren stand direkt vor dem dröhnenden Lautsprecher am Bühnenrand, als hätte er die Welt um sich herum schon lange nicht mehr wahrgenommen, auch wenn sie mit 100 Dezibel auf ihn eindrang. Seine bloße Statur war einschüchternd: Ray Cosbert, zunächst nur Wineshouses Tournee-Manager, kümmerte sich später um die gesamten Geschäfte der Sängerin. Um das Kamerateam scherte sich Cosbert an diesem Abend nicht.

Als drei Stunden später das Konzert begann, saß oben in der Loge Sir Elton John - ein Ritterschlag für die junge Sängerin. Ihm gegenüber hatte Amys Vater Platz genommen, Mitch Winehouse, ein Londoner Taxifahrer, der die Prominenz seiner Tochter ausschlachtete wie einen Fahrgast ohne Ortskenntnis. Die Folge waren gruselige Dokumentationen wie zuletzt "Saving Amy", die den jüngsten Entzug der Sängerin auf St. Lucia in der Karibik ins Scheinwerferlicht zerrte.

Ihr Auftritt im Shepherd's Bush Empire war fulminant. Als "Mrs. Amy Winehouse" wurde sie vorgestellt, und ihre neunköpfige Band sah aus, als hätte man sie aus den sechziger Jahren einfliegen lassen. Amy Winehouse stakste mit Hochfrisur auf Stöckelschuhen auf die Bühne. Dass sie unsicher auf den Beinen war, gehörte längst zur Marke Winehouse.

Wenn sie an diesem Abend sang, wirkte sie wie von einem anderen Stern. Die weite, kraftvolle Stimme passte nicht zur schmalen Person, eine rätselhafte Erscheinung. Doch immer, wenn die Musik verstummte und Winehouse ein Glas an die Lippen hob, stürzt sie aus dem Universum ihrer künstlerischen Kraft ins graue Leben. Sie lallte nicht wirklich. Aber die Zunge war schwer.

Das deutsche Fernsehteam bekam vom Konzert alle Bilder der Saalkameras, inklusive der zahlreichen Szenen, in denen Winehouse sich an Weingläser schmiegte. Wie der anschließende Bericht aussah, ist leicht vorstellbar. Und viele Episoden in Winehouses Leben zeigen, dass diese Stunden im Shepherd's Bush Empire im Mai vor vier Jahren kein Einzelfall waren. Vorwerfen kann man ihr die öffentlichen Abstürze nicht. Amy Winehouse konnte wunderschön singen. Das war ihr Beruf, nicht der branchenübliche Konflikt mit den Medien, in dem eine Seite möglichst viel Nähe möchte und die andere Seite Grenzen zieht. Winehouse fehlten diejenigen, die sie beschützten. Niemand hat für sie Grenzen gezogen zwischen Privatleben und Öffentlichkeit.

Es gibt zwei Erklärungen dafür, dass Winehouse sträflich allein gelassen wurde. Die eine lieferte Manager Raye Cosbert, der sich im Shepherd's Bush Empire so vornehm zurückhielt. "Mir gefällt es nicht, wenn Leute wissen, wie ich aussehe", scherzte er. "Sie könnten mir nach Hause folgen". Den publizistischen Amoklauf seines Schützlings vor laufenden Kameras ließ er zu. "Ich kann ihr nicht vorschreiben, wie sie ihr Leben zu führen hat", sagte er. Zudem war Winehouse damals bei Pop-Profi Simon Fuller unter Vertrag, der den Welt-Erfolg "Pop Idol" (in Deutschland: "Popstars") erfand. Er hätte sicher wissen können, wie man Stars beschützt.

Und so ist die andere Erklärung zynischer, vielleicht geht sie auch zu weit: Ein Mythos hilft, Platten zu verkaufen. Einfach laufen lassen - auch der Bericht des deutschen Kamerateams war Teil dieser negativen Legendenbildung. Schon früh wurde Amy Winehouse mit Janis Joplin verglichen. Schon früh wurde ihr Drogen- und Alkoholkonsum Teil des Pakets. Schon früh wurde im Boulevard berichtet, dass Winehouse mit dem Tod rechne. Und sie starb mit 27 Jahren. Was Raum ließ für eine Numerologie des Pop, denn mit 27 Jahren waren ja auch schon Kurt Cobain gestorben, Jim Morrison, Jimi Hendrix, Janis Joplin - und nun auch Amy Winehouse.

Die Rechnung, die niemand gemacht haben will, geht trotzdem auf: Winehouses Tod katapultierte ihr zweites Album "Back to Black" erneut an die Spitze der Charts. Davon profitiert Island Records zum Beispiel, eine Tochterfirma des Musikriesen Universal, bei der Amy Winehouse unter Vertrag stand. An der Spitze von Island steht heute ein Mann, der mit Amy Winehouse groß geworden ist: Darcus Beese, Anfang des Jahrtausends zuständig für "Artists and Repertoire", also für neue, junge Talente, und für die Pflege der bereits unter Vertrag stehenden Künstler. Auch Beeses früherer Chef, Nick Gatfield, verdankt seinen guten Ruf zum Teil dem Erfolg von Amy Winehouse. Zwei Tage vor ihrem Tod wurde er zum neuen Chef von Sony Musik Großbritannien bestellt.

Ihre alte Stimme, ihr junges Talent, ihre Extravaganz und zerbrechliche Stärke haben nicht nur Amy Winehouse groß gemacht. Im Schlepptau hat sie einige Manager mit auf den Gipfel des Erfolgs gezogen. Diese Männer sonnen sich heute im Erfolg. Nur Amy Winehouse ist gestürzt. Festgehalten hat sie niemand. Sie wurde nicht beraten, sondern verraten. Und verkauft. Sehr gut verkauft. Auch post mortem.

Der Autor war von 2007 bis 2010 Fernsehkorrespondent der ARD in London.

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