Amtseinführung:Labor und Schaufenster

Neue Leiterin des Marbacher Literaturarchivs

Sandra Richter leitet das Deutsche Literaturarchiv.

(Foto: Fabian Sommer/dpa)

Was Sandra Richter, die neue Direktorin des Deutschen Literaturarchivs, plant.

Von Felix Stephan

Marbach am Neckar wurde auf einem Hügel erbaut, was dazu führt, dass es in der ganzen Stadt keine ebene Fläche gibt. Ständig befindet man sich in der Schräge und es ist einem immer leicht schwindelig. Das hat natürlich Auswirkungen auf die Menschen hier. Vielleicht ist es gerade dieses Daseinsdefizit, dass sie motiviert sich zu Gesellschaften zusammenschließen, in denen sie ihre Leidenschaften gebündelt und verstärkt auf ästhetische Gegenstände richten.

Ein gutes Beispiel ist die "Deutsche Schillergesellschaft". Im Jahr 1903 hat sie Friedrich Schiller, der in dieser Stadt geboren wurde, aber bald Reißaus genommen hat, am fast höchsten Punkt der Stadt ein Museum im barocken Stil gebaut, das heute eher ein Mausoleum ist. Aufgebahrt in einer Vitrine finden sich dort die Kleidung des Dichters, sein Haar, seine Federn und sogar ein Rezept für Brechmittel, das der Arzt Friedrich Schiller ausgestellt hat. 1973 kam ein eigenes brutalistisches Archivgebäude hinzu und 2006 baute David Chipperfield dem Deutschen Literaturarchiv Marbach ein "Literaturmuseum der Moderne", sodass das Ensemble auf dem Hügel heute so etwas ist wie die zentrale Weihestätte des deutschen Autorenkults, ein schwäbisches Deutsch-Athen. In der ständigen Ausstellung liegen die Digitalkamera von W. G. Sebald, die Notizhefte von Peter Handke, das Manuskript von Joseph Roths "Hiob".

Oben in den Ausstellungssälen geht es um Aura, unten im Archiv, wo die Nachlässe und Autorenbibliotheken lagern, um Philologie. Am Donnerstag ist hier die neue Direktorin, Sandra Richter, in ihr Amt eingeführt worden. Sie ist nach einem Altphilologen und zwei Historikern die erste Germanistin in diesem Amt. Ihr Vorgänger, Ulrich Raulff, hatte sich vor allem damit einen Namen gemacht, für das Literaturarchiv auch die Nachlässe von Philosophen und Historikern anzukaufen, wenngleich etwa der Nachlass von Hannah Arendt schon vor ihm da war. Sandra Richter will aus dem Archiv jetzt einen literarischen Thinktank machen, der einen Beitrag leistet zur Ausbildung öffentlicher Urteilskraft.

Dazu muss sie allerdings zuerst das Publikumsproblem lösen, das die Olymphaftigkeit des Archivs eben auch mit sich bringt. Selbst wenn hier mit größerem Ernst gedacht und gesprochen wird als an den meisten anderen Orten des Landes, nimmt die Berliner Republik die beschwerliche Reise nach Marbach nicht ganz so häufig auf sich, wie man sich das hier erhoffen würde. Sandra Richter schwebt deshalb eine Zweiteilung vor: "Marbach als Labor, Berlin als Schaufenster". Ausstellungen, Gesprächs- und Präsentationsformate sollen in Marbach ausprobiert und wenn sie funktionieren, in Berlin - etwa in der Stiftung Preußischer Kulturbesitz - dem großen Publikum zugeführt werden.

Marbach will sich fortan stärker der Welt mitteilen, die Marbacher ",heilignüchterne Begeisterung', die aus Bestandskenntnis und fragender, forschender Neugier erwächst" (Sandra Richter) will diskursiv nutzbar werden. Marbach will Fontanes "Effi Briest" und Kafkas "Strafkolonie" postkolonial lesen, es will Computerspiele als Erzählformen begreifen und in der Entwicklung digitaler literaturwissenschaftlicher Methoden Technologieführer werden. Dafür kooperiert es unter anderem mit dem Bundeshöchstleistungsrechenzentrum Stuttgart, um ein "Science Data Center Born-digitals" auf die Beine zu stellen. Als "Born-digitals" bezeichnet die Philologie Texte, zu denen es keine Manuskripte gibt, weil sie schon am Computer entstanden sind.

Bislang hat die digitale Revolution auf Geisteswissenschaftler und ihre Zentralthemen Textverständnis, Urteilskraft, Ambiguitätstoleranz weitgehend verzichtet und das sieht man ihr eben auch an. In diesem Sinne ist die sanfte Umgestaltung dieser Institution zur philologischen Beratungsagentur nicht eben verfrüht. Im Digitalkapitalismus bedarf immer alles der Erneuerung, nur der Mensch ist gut, wie er ist, solange er sich mitteilt. Das Archiv (von griechisch archē: Anfang, Ursprung), sagte Sandra Richter in ihrer Antrittsrede, sei "der Ort, wo sich Schillers ,ganzer Mensch' immer wieder neu bilden kann".

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