Süddeutsche Zeitung

Amos Gitai und der Fall Rabin:Letzte Tage

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Seit einem Vierteljahrhundert spürt Amos Gitai in Filmen, Lesungen und Ausstellungen den Hintergründen der Ermordung von Jitzchak Rabin nach. Jetzt ist sein Privatarchiv in Paris zu sehen.

Von Joseph Hanimann

Zu den Kontroversen um die politische Entwicklung seines Landes hat der Filmautor Amos Gitai einen einzigen Namen im Kopf wie einen Leuchtstern am finsteren Horizont. Jitzchak Rabin. Seine Verbindungen zum 1995 ermordeten Ministerpräsidenten führt er gern schon auf seine Vorfahren zurück. Wie Rabins Ahnin Rosa habe seine eigene Großmutter Esther im Kibbuz mit der roten Fahne jeweils am 1. Mai für einen humanen Sozialismus demonstriert.

Konkret wurde die Verbindung aber erst, als Rabin 1992 Regierungschef wurde. Gitai kehrte nach zehn Jahren in Paris mit seiner Familie nach Israel zurück. Beim israelischen Fernsehen hatte man ihm in den frühen Achtzigern zu verstehen gegeben, dass nach seiner Filmreportage "Field Diary" aus den von Israel im ersten Libanonkrieg besetzten Gebieten kein Interesse mehr an seinen Arbeiten bestünde. Er wollte nun an der Seite Rabins mit seiner Kamera die zögerliche Annäherung zwischen Israelis und Palästinensern begleiten. Und nach den drei Schüssen am 4. November 1995 gegen den Ministerpräsidenten auf dem Platz der Könige Israels in Tel Aviv nahm seine künstlerische Dokumentation der Ereignisse kein Ende. Eher so etwas wie den eigentlichen Anfang.

Mehrere Arbeiten über jene dramatisch verpasste Chance sind seither entstanden, zuletzt der Dokumentarfilm "Rabin, The Last Day" im Jahr 2015, mit einer nachgespielten Passage der Mordszene. Dazu kamen Ausstellungen, Aufzeichnungen, öffentliche Lesungen, Theateraufführungen mit Hanna Schygulla und Jeanne Moreau. Rabin, den Gitai mehrmals interviewt und 1993 zum Handschlag mit Arafat nach Washington begleitet hatte, ist ein perspektivischer Fluchtpunkt in seinem Schaffen geworden.

Sein gesamtes Privatarchiv zu diesem Thema hat Gitai der französischen Nationalbibliothek vermacht. Neben Manuskripten, Fotos und sonstigem Material enthält es ein Konvolut digitaler Bild- und Tonaufzeichnungen mit einem Umfang von insgesamt 14 Tetrabyte. Andere Teile seines Archivs hat Gitai früher schon der israelischen Nationalbibliothek und der Universitätsbibliothek Stanford anvertraut. Diesen aber glaube er in Paris am besten aufgehoben, erklärte der Filmautor bei der Eröffnung einer Ausstellung, die die französische Nationalbibliothek ihn aus Anlass der Schenkung einrichten ließ. Angesichts der wachsenden rechtsnationalen Tendenz in seinem Land befürchtet Gitai politische Einflussnahme auf die Archive. Die einzige ernsthafte Gegenkraft zu dem seit 25 Jahren visionslos operierenden Netanjahu sei noch heute Rabin, ein toter Mann - meint er und bezeugt damit seine politische Untröstlichkeit.

Realszenen mutieren zu Archivmaterial

Die Pariser Ausstellung im nördlichen Längsflur der Nationalbibliothek entfaltet dies in Form einer 16-teiligen Montage aus Fotos, Filmstreifenabzügen und Texten, wie ein langes Roadmovie nach Nirgendwo. Die in die Länge gestreckte Ausstellungsarchitektur - Gitais Vater war der Bauhaus-Absolvent Munio Gitai Weinraub und Amos Gitai selbst hat zuerst ebenfalls Architektur studiert - schichtet alte und neue Dokumente wie sukzessive Ablagerungen übereinander.

Die Verwandlung von Gegenwartsdingen in Zeugnisse zeichnet Gitais Umgang mit der Geschichte aus. In seinem Film "Rabin, The Last Day" war der ehemalige Vorsitzende des israelischen Obersten Gerichts und Präsident der Untersuchungskommission zur Ermordung Rabins, Meir Shamgar, zu einer gespielten Filmszene geladen, in welcher eine junge Anwältin scharf die israelische Siedlungspolitik kritisiert. Und dass Shamgar bei dieser Szene keinerlei Reaktion des Einspruchs erkennen lässt, versteht der Filmautor als neues historisches Dokument. Realszenen mutieren vor unseren Augen zu Archivmaterial.

Eine ähnlich offene Dynamik zeigt auch die Ausstellung mit ihrer inszenierten Neukombination von Bildern, Tonaufnahmen und Texten. Die Wahlfotos für Netanjahu geraten in einen Zeitwirbel und lassen uns rätseln, ob sie aus dem Jahr 1996 stammen, aus einer der seither zahlreichen anderen Kampagnen oder gar aus dem abermaligen jüngsten Wahlkampf des vergangenen Monats. Es ist, als drehte sich nach der Endgültigkeit des Attentats die israelische Politik taumelnd im Kreis.

In einem entscheidenden Punkt weicht der heute 70-jährige Gitai jedoch von der bei seiner Generation beliebten Ästhetik des offenen Kunstwerks ab. Statt sich am Spiel immer neuer Bildkombinatorik zu ergötzen, lässt seine Arbeit eine klare politische Zielrichtung erkennen. Hinter dem fanatischen Todesschützen, so suggeriert nach den Filmen auch diese Ausstellung, habe die seither die israelische Politik bestimmende Absicht gestanden, eine Zweistaatenlösung unmöglich zu machen. Für die weise Einsicht des Kriegsführers Rabin, dass militärische und politische Überlegenheit als Taktik nach dem Sieg Schwäche verberge, sei kein Platz mehr gewesen.

In der Bild- und Textauswahl ist dagegen ein Rabin zu sehen, der stets für eine koordinierte, nicht überheblich einseitige Räumung der besetzten Gebiete eintrat. Er selbst und Arafat hätten sich vom symbolischen Aspekt ihrer Begegnung zu sehr vereinnahmen lassen, statt pragmatisch auszuhandeln, wie viele israelische Polizisten am Jordan, wie viele Palästinenser in Jericho und wie viele gemeinsam erarbeitete Einrichtungen für ein menschenwürdiges Leben der Menschen in Gaza nötig seien, erklärte Rabin bei einem in der Ausstellung dokumentierten Auftritt. Dem Zeitzeugen Gitai ist es gelungen, sein dokumentarisches Vermächtnis vor Erinnerungssymbolik zu bewahren.

Amos Gitai / Yitzhak Rabin - Chronique d'un assassinat. Bibliothèque Nationale de France, Paris. Bis 7. November 2021. Katalog 26 Euro.

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