Süddeutsche Zeitung

Amerikanische Poesie:Auf dem Dreirad durch das Nichts

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Von Sokrates über die Beat Poetry bis ins Innere der Muschel: Der Dichter Keith Waldrop in zwei Auswahlbänden.

Von Nico Bleutge

Gleich das erste Gedicht enthält ein kleines Selbstporträt: der Dichter als verschrobener Antiquar. Seine Räume sind kein penibel geführtes Archiv, eher ähneln sie einem Provinzmuseum, in dessen Ecken sich interessante Sachen finden lassen. Denkmäler und Andenken liegen neben Kuriositäten, "hier und da eine dicke Lüge", die Regale reichen kaum mehr aus. Dieser Antiquar ist ein "Vielfraß", der nichts aufräumen oder gar wegwerfen kann, vielmehr die Dinge in immer neue Zusammenhänge stellt: "Nichts, nichts werde ich / aufgeben. Weil es zu wenig gibt."

Der amerikanische Dichter Keith Waldrop, 1932 in Kansas geboren, ist der Philosoph unter den Autoren seiner Generation. Glücklicherweise einer, der an die sokratische Tradition anschließt. Ein sympathisches wissendes Nichtwissen durchzieht seine Verse. "Und ich habe / keine Erklärung", heißt es einmal. Das gilt auch für die Gedichte. So emphatisch sie die endlose Bewegung des lebendigen Denkens in ihren Lauf holen, so konsequent entziehen sie sich jeder Vorstellung eines Endes oder gar fester Ergebnisse. Alle Worte sind hier "auf Bewährung". Und das Schreiben gleicht am ehesten einer wackeligen Fahrt durch unkartierte Räume - oder genauer: "einer Art / Dreiradfahren / durch das Nichts".

Es ist ein großes Vergnügen, Waldrops Gedichten bis in die letzten Verästelungen hinein zu folgen, ihren Klängen und Drehungen nachzuspüren. Seine Vorstellung vom Schreiben hat er in einem Vers versteckt: "Wörter auf so eine Weise / benützen, dass sie keine Grenze / einschließt". Ein im besten Sinne spielerischer, freier Umgang mit Sprache bestimmt die Gedichte. Waldrop legt gleichsam kleine Magnetwörter aus, Ideen, die man nie sieht, sondern nur anhand der assoziativen Felder erahnen kann, die sich als Verse um diese Ideen gruppieren. So entstehen keine Körper, wie er einmal schreibt, sondern "vorsichtig / abstrahierte Gebilde".

Nicht von ungefähr lautet einer seiner intensivsten Verse "reality / is what does not exist". Leider ist hier die Übersetzung ein wenig ungenau. "Realität / ist eigentlich gar nicht vorhanden" trifft nicht ganz den philosophisch mehrfach aufgeladenen Begriff der Existenz, der in dem Satz mitschwingt. Dafür bildet die Übersetzung gut den freien Rhythmus nach, den Waldrop für seine Gedichte entwickelt hat. Mit Allen Ginsberg und Lawrence Ferlinghetti im Ohr erarbeitet er sich ein Gefühl für die lange Zeile, wie überhaupt die Beat-Poeten ihre Spuren in diesem frühen Schreiben hinterlassen haben.

Waldrop, der selbst ein begnadeter Übersetzer ist (etwa von Edmond Jabès oder Anne-Marie Albiach), kann sich darüber freuen, dass gleich sechs Dichterinnen und Dichter seine Gedichte übertragen haben. An fast allen Übersetzungen ist der Versuch ablesen, Waldrops Sprachmischungen einzufangen ("Alte / Götter und alte Werbeanzeigen verblassen gemeinsam", wie sein gefräßiger Antiquar meint) und zugleich das Spiel mit Klängen einzuholen. Jedes "oof" wird hier zu einem "uff", und eine paradoxe Formulierung wie "extravagant strange" findet eine ebenso klangstarke Entsprechung in der Fügung "verschwenderisch fremd".

"Kompliziert, / oder? Aber / nicht verheddert." Und schon gar nicht ohne Komik

Für soviel Sprachlust reicht ein Buch kaum aus. So haben die Herausgeber David Frühauf und Jan Kuhlbrodt zwei dicke Auswahlbände zusammengestellt (und ein paar Einzelbände Waldrops sollen in den nächsten Jahren noch kommen). Der Chronologie seiner inzwischen mehr als 15 Gedichtbücher folgend haben sie eine Mixtur aus Langzeilen, prosaartigen Texten und knappen Sammlungen komponiert. Immer wieder löst Waldrop die Umrandungen der Wörter auf. Manchmal lagert er seine Wörter in längere Narrationen ein, meist aber formiert er sie zu Säulen, die an die Verse Robert Creeleys erinnern.

Und so schreibt er Gedichte, in denen sich Denken und Atmosphäre durchdringen. Alles wird zu einem "Ort / reiner Vermutungen", an dem Waldrop auch alles in der Sprache durchspielen kann, die Bezie-hungen zwischen dem Meer und den Wolken ebenso wie Stoff aus dem eigenen Leben, etwa eine Fahrt durch die Stadt oder Lesemomente mit seiner Frau, der Dichterin Rosmarie Waldrop, mit der er vor vielen Jahren die Burning Deck Press gegründet hat, einen der wichtigsten Kleinverlage für avancierte Lyrik in den USA.

Je weiter das Schreibleben voranschreitet, desto mehr entschlackt Waldrop seine Verse. Die Details aus dem Alltag gehen zurück, dafür nehmen die Reflexionen über Details zu, sodass die Gedichte mal an Meditationen erinnern, mal an gläserne Würfel, in denen sich das Licht bricht. Die Impulsgeber dieser wundersamen poeti-schen Wahrnehmung sind Fragen - und schillernde Widersprüche: "Ich erinnere mich / an alles und / nichts stimmt." Von einer Seite aus betrachtet ist alles verloren, von der anderen Seite aus gibt es nichts zu verlieren, lesen wir einmal.

"Kompliziert, / oder? Aber / nicht verheddert." Und schon gar nicht ohne Komik, möchte man hinzufügen. Dass der Gedanke an ein Flugzeugklo direkt zu Epikur führt ("er lehrte, dass / alle Dinge wegen ihrer Schwere ewig fallen würden, aber / sanft und ohne Einschlag") - das gibt es nur bei Keith Waldrop. Verse können hier ein perfekter Zufluchtsort sein, "wie streifen der existenz" oder "wie / muscheln, in denen worte rauschen". Also schnell die Gedichte ans Ohr gehalten.

Keith Waldrop: gravitationen 1. Ausgewählte Gedichte (1968 - 1997). Zweisprachige Ausgabe. Herausgegeben von David Frühauf und Jan Kuhlbrodt. Aus dem Englischen von den Herausgebern sowie Tim Holland, Swantje Lichtenstein, Peggy Neidel und Barbara Tax. Gutleut Verlag, Frankfurt am Main 2017. 156 Seiten, 23 Euro.

Keith Waldrop: gravitationen 2. Ausgewählte Gedichte 2000 - 2009. Gutleut Verlag, Frankfurt am Main 2019. 172 Seiten, 24 Euro.

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SZ vom 26.02.2020
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