Amerikanische Malerei:Museale Rassentrennung

Obwohl sein Werk es gerechtfertigt hätte, gehörte der amerikanische Maler Jack Whitten nie zum Kanon. Erst langsam holen die Museen das Versäumnis nach, wie jetzt im Hamburger Bahnhof in Berlin.

Von Jörg Heiser

Der erste von vier Räumen dieser Ausstellung im Hamburger Bahnhof ist eine Ouvertüre, die man so schnell nicht vergisst: fünf Bilder, entstanden zwischen 1968 und 2014, die ein halbes Jahrhundert überspannen und ein ganzes malerisches Universum aufmachen. Es fängt an mit "King's Wish (Martin Luther's Dream)" von 1968, ein psychedelisches Feuerwerk an Karmesin-, Zinnober- und Violett-Tönen, die eine gelb-grüne Kernzone umfassen, aus der halbtransparente Visionen von Gesichtern steigen wie Luftballons. Es ist natürlich Martin Luther Kings berühmte "I have a dream"-Rede, die sich Jack Whitten, im tiefen Nachhall von dessen Ermordung, noch einmal als Vision einer glücklicheren Zukunft ausmalte. Eine Vision, die ihre Trauer nicht verbirgt.

Dennoch, es geht munter weiter: "Zulu Tea Party" (1973) nimmt die Energie auf und steigert sie zu einem kontinentalen Beben, bei dem blitzendes Rot, Gelb, Weiß und Blau auf schwarzem Grund aus einem semitransparent darüber gezogenen Lachsrosa hervorbrechen. Man muss sofort an die Rakelbilder von Gerhard Richter denken - nur dass dieses Bild hier von 1974 ist, während Richters erstes von 1980 stammt (die Rakeltechnik als solche hatte Richters Lehrer Karl Otto Götz schon in den 1950ern entwickelt).

Mit "Red, Black, Green" (1979-80) ist es wiederum, als hätte die Elektronik Einzug gehalten: Mittels aufgeklebter Bindfäden und geometrischer Farbzonen strukturiert Whitten die Leinwand zu einer Art Fernseh-Testbild. Bevor dann das Selbstporträt von 2014 uns endgültig wie das Antlitz eines Roboters aus der Zukunft anschaut, der sich aus zahllosen funkelnden Meteoriten und Sternenstaub zusammenzusetzen scheint und reliefartig aus der Leinwand wächst - Bruchstücke aus getrockneter Acrylfarbe und Plastikmüll in Schwarz mit Einsprengseln in Blau, Weiß, Gelb und Grün.

Wegen der Rassentrennung besuchte Whitten eine gesonderte Kunstschule

Jack Whitten ist Anfang 2018 im Alter von 78 Jahren gestorben, doch er hat diese Ausstellung zusammen mit den Kuratoren Udo Kittelmann und Sven Beckstette noch mitkonzipiert. 1939 in Bessemer, Alabama, geboren, wuchs er unter den grausamen Gesetzen der Rassentrennung auf. Martin Luther King lernte er 1957 beim Busboykott in Montgomery kennen. Zum Kunstmuseum der Stadt Birmingham im gleichen Bundesstaat wurde ihm damals der Zutritt verwehrt; noch 2007 antwortete Whitten trocken auf die Frage der Kuratorin Connie Butler vom MoMA in New York, in welchem Museum der Welt er seine Bilder gerne einmal sehen wolle: Birmingham, Alabama.

Die Perversität der Rassentrennung gebot zudem, dass in den Südstaaten die Afroamerikaner ebenfalls in gesonderten Kunstschulen unterrichtet wurden. So ging er stattdessen 1960 nach New York, studierte an der Cooper Union und lernte viele der großen künstlerischen Persönlichkeiten dieser Zeit kennen, von Willem de Kooning bis John Coltrane.

Der Rest ist Geschichte, würde man normalerweise sagen - wenn es mit rechten Dingen zugegangen wäre. Er erfährt moderate Beachtung und Anerkennung, manifestiert etwa in einer Einzelausstellung im New Yorker Whitney-Museum 1974. Doch bleibt Whitten für Jahrzehnte die ihm eigentlich zustehende Aufnahme in den "Kanon" verwehrt. Sein Werk hätte zweifellos gerechtfertigt, dass er in einem Atemzug mit den üblichen Verdächtigen der Malerei seit den 1960ern aus Europa und Nordamerika genannt wird, all jenen, die wie er elegant und kraftvoll zwischen Abstraktion und Figuration, Bild und Objekt, kulturellen Partikularismen und großen Universalien tänzeln. Erst in den letzten Jahren wurde einiges nachgeholt, darunter eine große Retrospektive, die durch US-Museen tourte, 2016 die Verleihung der National Medal of Arts durch Präsident Obama. Dass dies die erste Whitten-Einzelausstellung in einem europäischen Museum ist, ist dem Hamburger Bahnhof als Verdienst anzurechnen.

Aber es wirft auch die Frage auf, wie es kommen konnte, dass in all den Jahrzehnten vorher kein einziges Haus auf die Idee gekommen wäre, Whitten zu zeigen. Die Gründe dafür sind so offensichtlich wie beschämend: In den USA, aber auch andernorts, wurde - und wird zum Teil bis in die Gegenwart - eine Art unausgesprochene Segregation betrieben, der zufolge die Kunst afroamerikanischer Künstler in einer Art Subkategorie gehöre, getrennt zu zeigen; sie also für den musealen Olymp - ähnlich wie es bis vor wenigen Jahrzehnten für Frauen galt - erst gar nicht in Erwägung kamen. Dieser strukturelle Rassismus setzte sich entsprechend lange auch als schlichtes Unwissen fort. Wer wusste überhaupt, wer Whitten ist? Das hat sich glücklicherweise geändert, nicht zuletzt auch dank einer jüngeren, erfolgreichen Generation afroamerikanischer Künstler; Mark Bradford beispielsweise - der 2017 im US-Pavillon auf der Venedig Biennale zeigte - hat sich immer wieder bewundernd auf Whitten bezogen, der mit seinen malerischen Misch- und Assemblage-Techniken auch erkennbar Einfluss auf Bradfords Werke hatte.

Die Coolness ist keine launisch gewählte Manier, sondern eine Widerstandsgeste

In Berlin zeigt sich Whittens innovative Mosaiktechnik auf Leinwand mustergültig in einer Konstellation zweier Werke. Zentral im Raum hängt "Apps for Obama". Das große Bild ist wie ein Handy-Bildschirm gestaltet, dessen Hintergrund an das Blau von Swimmingpool-Kacheln erinnert. Und tatsächlich ist der Verlauf von Weiß zu Hell- und Dunkelblau aus kleinen gehärteten, aufgeklebten Acrylbruchstücken zusammengefügt. Auf diesen Hintergrund, der zugleich an die Pixel schlecht aufgelöster Digitalbilder denken lässt, sind im regelmäßigen Raster bunte App-Symbole platziert; eine Reihe ist erkennbar aus mit Acrylfarbe gefüllten Plastiktüten geformt, die als ungeschliffene Edelsteine aus der Bildfläche herausragen.

Die "Apps für Obama" - entstanden 2011, ein Jahr vor dessen Wiederwahl - erscheinen so als eine Art magisches Geschenk oder humorvoller Wunsch, er möge das Geschick und die richtigen Hilfsmittel auf seiner Seite haben. Doch wenn man einen Moment denken könnte, der bunte Optimismus des Bildes könnte ins Süßlich-Liebliche kippen, fällt der Blick auf ein gegenüber gehängtes, kleineres Werk.

Wieder in Mosaiktechnik gearbeitet, starrt einen eine auf die Leinwand aufgeklebte schwarze Sonnenbrille an, die von konzentrisch platzierten Reihen kleiner schwarz-weiß gesprenkelter Steinchen umgeben ist. Mit "Self-Portrait: Entrainment", 2008 entstanden, porträtiert der Künstler sich als cooles, mit einer gewissen Härte gegen die Welt sich wappnendes Augenpaar. Dass diese Coolness keine launisch gewählte Manier ist, sondern historisch aus der Notwendigkeit des Widerstands gegen Verfolgung hervorging, macht ein direkt daneben platziertes frühes Werk von 1964 deutlich. Es heißt "Head IV Lynching" und deutet den Kopf eines von weißen Rassisten Gelynchten in gespenstischen weißen Schlieren auf schwarzem Grund an.

Whittens politisches Bewusstsein setzt sich fort mit jenen Bildern, die Hommagen an verstorbene Größen darstellen, jeweils im Jahr deren Todes entstanden. "Black Monolith X - Birth of Muhammad Ali" von 2016 erinnert an den größten politischen Akt des Boxers: seine "Wiedergeburt", indem er den muslimischen Namen annahm und den Kriegsdienst in Vietnam verweigerte. Weitere Bilder sind Betty Carter oder Prince gewidmet; aber auch weißen Künstlern wie Robert Rauschenberg, Louise Bourgeois oder Andy Warhol.

Zuletzt wird so ganz en passant klar, wie es Whitten gelungen ist, sich nie in bloß illustrativen Inhalten oder formalistischen Fingerübungen zu ergehen. Wie bei ihm Malerei ohne Malen vonstattengeht und überhaupt zur Bildhauerei mutiert. Vor allem aber platzierte er sich stets genau in die Lücke zwischen Politik und Intimität, Universalität und Differenz. Es ist die Lehre aus einem Jahrhundert Künstlerleben: Lass dich weder segregieren noch eingemeinden.

Jack Whitten: Jack's Jackie. Hamburger Bahnhof, Berlin, bis zum 1. September 2019.

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