Amerikanische Literatur:Unter Scheinheiligen

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Rassismus definiert die Regeln des Zusammenlebens in einem kleinen Ort im Osten von Texas: Attica Locke erzählt in "Bluebird, Bluebird" von Hass, Ehre, Angst und Begehren.

Von Stefan Fischer

Die Reihenfolge der zwei Morde irritiert den Texas Ranger Darren Matthews. Zuerst liegt ein schwarzer Mann tot im Attoyac Bayou. Wenige Tage später eine weiße Frau. Matthews kennt ein anderes Muster im ländlichen Texas: Dass erst ein Weißer ermordet und infolgedessen ein Schwarzer das Opfer von Rachlust wird.

So tief sitzt der Rassismus im Osten von Texas nach wie vor, dass die Schwarzen dort sich ihres Lebens nicht sicher sein können. Zudem gilt wie beinahe überall in den USA: Werden Schwarze Opfer von Gewaltverbrechen, haben die Täter kaum etwas zu befürchten. Und ist das Opfer weiß, wird zwangsläufig ein Schwarzer verdächtigt. Derart feindselig und unversöhnlich jedenfalls schildert Attica Locke die Atmosphäre in Shelby County. Schwarzen wird hier mitunter schon zum Verhängnis, dass sie ihre Ausgrenzung nicht akzeptieren. Eine Bar zu betreten, mit einer Weißen zu flirten, all das kann tödliche Konsequenzen haben.

"Als Folge von Obama hatte Amerika sein wahres Gesicht gezeigt."

Diese grundlegende Front des amerikanischen Rassenkonflikts bildet jedoch nur die oberste, am klarsten fassbare Schicht des Romans "Bluebird, Bluebird". Sie definiert die Regeln des Zusammen- und Nebeneinanderherlebens in dem kleinen, fiktiven Ort Lark. Doch diese Regeln werden unentwegt gedehnt, unterlaufen und gebrochen - mal heimlich, hin und wieder offen. Das erzeugt einen Druck, der mehrfach zu gewaltigen Explosionen führt.

Attica Locke, die als Autorin und Produzentin an der US-Serie "Empire" über die Verwerfungen rund um ein Hip-Hop-Label mitarbeitet, dringt tief ein in das beklemmende Milieu von Lark in ihrem mit dem Edgar Allen Poe Award prämierten Krimi, dessen Titel sich von einem John-Lee-Hooker-Song ableitet; eine Anspielung, die man spät im Buch begreift: "Bluebird, Bluebird, take this letter down south for me" heißt die Zeile.

Als Randie Wright, die Witwe des toten, ortsfremden Schwarzen, in Lark eintrifft und mit vehementer Selbstverständlichkeit ihr Recht auf eine rasche und rücksichtslose Aufklärung des Mordes einfordert, weiß man als Leser längst, dass dieser Weg nicht zum Ziel führen und Darren Matthews, der Texas Ranger aus dem drei Autostunden entfernten Houston, ihn auch nicht beschreiten wird. Man nimmt das als frustrierende und schockierende Realität in Teilen der USA: Dass Polizisten in einer Demokratie taktieren müssen, um dem Recht ausnahmsweise Geltung zu verschaffen.

Illustration: Alper Özer (Foto: N/A)

Matthews ist sich bewusst, dass er nach der Wahl von Barack Obama zum US-Präsidenten einer Illusion aufgesessen ist. Der Mittvierziger hatte geglaubt, er gehöre der letzten Generation Schwarzer an, die wegen ihrer Hautfarbe auf der Hut sein und viel härter kämpfen müssen als Weiße, um dasselbe zu erreichen wie sie. "Doch in Wirklichkeit war genau das Gegenteil passiert. Als Folge von Obama hatte Amerika sein wahres Gesicht gezeigt", räumt Matthews ein, der einer alteingesessenen Familie angehört, die reich genug ist, um in Texas bleiben zu können. Ihre Mitglieder müssen nicht in den Großstädten des Nordens Arbeit suchen. Eine Familie, die sich als Teil von Texas definiert und bereit ist, für den Staat einzutreten, anstatt ihn hasserfüllten Weißen zu überlassen.

Darren Matthews sieht die Dinge klar, was ihm zugleich mitunter den Blick verstellt. Er bemüht sich um Neutralität, aber das ist viel verlangt von einem, dem kaum einmal jemand unbefangen gegenübertritt. Hinter Jeff's Juice House in Lark, in dem sich die Rednecks treffen, von denen einige Mitglieder in der Arischen Bruderschaft Texas sind, wird Matthews sogar offen mit dem Tod bedroht.

Dass er ein Schwarzer ist, der sich in die Angelegenheiten von Weißen einmischt, wiegt so schwer, dass sein Status als Polizist keine Rolle spielt. Seine Ermordung wäre für den Witwer der toten Weißen die Eintrittskarte in die Bruderschaft. Die Angreifer wissen überdies, dass da eine merkwürdige Sache war, unmittelbar bevor Darren nach Lark gekommen ist und derentwegen er vorübergehend suspendiert war: der Mord an einem weißen Rassisten, ein schwarzer Freund von Matthews, eine verschwundene Tatwaffe ...

Jeff's Juice House ist der eine Pol in Lark, Geneva Sweet's Sweets am gegenüberliegenden Ortsausgang der andere - der Treffpunkt der Schwarzen und für Darren Matthews eine Art Hauptquartier, in dem er allerdings nur mittelprächtig gut gelitten ist. Sein Verhältnis zu Randie Wright ist lange Zeit schwierig, ebenso das zu Geneva Sweet und vielen ihrer Stammkunden. Solidarität unter Schwarzen ist kein Automatismus. Etliche Menschen im Ort, darunter auch Schwarze, haben mehr zu verlieren als zu gewinnen durch Matthews' Ermittlungen. Und sei es der notdürftig errungene Anschein von Seelenfrieden.

Der Rassismus ist die Triebkraft hinter allem, das legt Attica Locke mit einer stringenten Eindringlichkeit dar, die keine Ausflüchte zulässt. Er allein reicht aber nicht aus als Erklärung für insgesamt vier Morde. Da ist noch mehr: Stolz, Ehre, Angst, Rache und Begehren.

Der Rassismus macht die Menschen zu Gefangenen, auch etliche Weiße: den örtlichen Sheriff, der weiß, wann er sich mit wem anlegen kann und wann nicht; den Patron des Ortes, Wally Jefferson, der ein denkbar krudes Verhältnis zu seiner schwarzen Nachbarin Geneva hat, und Missy Dale, die eben mehr auf schwarze Männer steht. Keiner von ihnen rüttelt wirklich an den Grundfesten der dörflichen Gesellschaft. Dazu bräuchte es viel Mut und auch den Willen.

Doch die Bande zwischen Weißen und Schwarzen in Lark sind enger, als es die verabscheuungswürdigen Sitten zulassen. Rassistischer Hass ist der Katalysator, aber nicht das zentrale Motiv für die meisten der Morde in Lark, Shelby County, Osttexas.

© SZ vom 18.04.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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