Amerikanische Literatur:Krächzende, ächzende Unglücksraben

Okay, ein Abschluss in Harvard - und was noch? Joshua Ferris schildert in seinem Erzählungsband "Männer, die sich schlecht benehmen" das Leben unter Selbstoptimierungs-Imperativen.

Von Meike Fessmann

Die Angst, aus ihrem Leben nicht das Maximum herauszuholen, sitzt ihnen im Nacken. Sie wissen nicht, wo die Messlatte hängt, aber sie wollen sie unbedingt reißen. In dauernder Anspannung strecken sie sich nach der Decke, mühen sich ab, in der Freizeit noch mehr als bei der Arbeit. Den entscheidenden Moment dürfen sie auf keinen Fall verpassen, und dann müssen sie ganz genau das Richtige tun. Aber was soll das sein? Und wer kann garantieren, nicht sofort übertroffen zu werden? Wer das Maximum anstrebt, hat immer Luft nach oben. Es ist ein spezieller Typus New Yorker Großstadtneurotiker, den der in Brooklyn lebende Joshua Ferris in seinem Erzählungsband "Männer, die sich schlecht benehmen" am häufigsten in Szene setzt. Doch nicht alle Geschichten spielen in New York, und nicht immer sind seine Protagonisten in der Rushhour des Lebens.

Ein Rentnerpaar beispielsweise zieht in der Erzählung "Der Hypochonder" von Ohio nach Florida, um den Ruhestand dort zu verbringen. Doch gleich am ersten Tag kommt die Frau bei einem Verkehrsunfall ums Leben. Der Mann fühlt sich einsam in der luxuriösen Seniorenresidenz. Er erzählt jedem von seinen Krankheiten, den Ärzten und dass es für das Leben "keine Betriebsanleitung" gibt. Selbst als ihm die Enkelin am Telefon zum "Burzeltag" gratuliert, wie der einfallsreiche Übersetzer Marcus Ingendaay ihr "Happy birfday" übersetzt, lässt er seinem Lamento freien Lauf. Immerhin schickt ihm sein bester Freund eine Prostituierte. So kommen seine Lebensgeister wieder in Schwung.

"Die Brise" heißt eine ebenso sehnsuchtsvolle wie paranoide Erzählung, in der eine Frau auf ihrem Balkon die erste Frühlingsluft schnuppert und vom Gefühl überwältigt wird, sie müsse unbedingt etwas Besonderes tun: mit ihrem Mann in den Central Park? Nur ein Picknick oder wilder Sex in den Büschen? Man könnte auch in eine Lounge gehen und mit einem Drink vom Hochhaus auf den Park blicken oder Freunde zu einem Treffen animieren. Vielleicht wäre ein gemütlicher Italiener das Richtige? Was aber, wenn die anderen Gäste fröhlicher sind und sie sich anöden? Ist es nicht schon viel zu spät, um loszufahren? Oder sollte man statt der U-Bahn einfach mal ein Taxi nehmen?

Es ist typisch für Joshua Ferris, dass er diese Überlegungen nicht als inneren Monolog erzählt. Er gestaltet sie als rasche Abfolge von Variationen mit unklarem Wirklichkeitsstatus. Blitzschnell tastet er seine Protagonisten von innen und außen ab und entwirft ein hektisches Screening der Stimmungsumschwünge in unterschiedlichen Szenarien. Wörtliche Dialoge wechseln sich mit indirekt wiedergegebenen Gesprächsfetzen ab. Und so begleiten wir Sarah und Jay in verschiedene Situationen, teilen Momente der Euphorie, gefährliche Differenzen, befriedete Augenblicke. Wir spüren seinen Widerstand und ihre wachsende Ungeduld. Und wissen bis zum Schluss nicht, ob sie die Wohnung überhaupt verlassen haben.

July 3 2018 Turin Piedmont Italy Turin Italy July 3 2018 The American writer Joshua Ferris

Männer, die mit Stiften spielen: Joshua Ferris bei der Präsentation seines neuen Erzählungsbandes im Juli 2018 in Turin.

(Foto: imago/ZUMA Press)

Die Panik, den eigenen Ansprüchen nicht zu genügen und aus den vielen Optionen womöglich die falsche zu wählen, treibt viele Figuren um. Sie beschimpfen sich vor dem Spiegel oder nutzen den Spiegel eines Gästebads, um sich zu stabilisieren. So macht es ein drittklassiger Drehbuchautor, der nach tagelangem Hin und Her, ob die per Mail verschickte Einladung überhaupt ihm gelten kann, doch auf die Party einer erfolgreichen Kollegin gegangen ist. Als trockener Alkoholiker fühlt er sich ausgeschlossen und ungeschickt, bis er hemmungslos zu trinken beginnt.

Die stille "Implosion" von Paarbeziehungen unter Optimierungsdruck beschreibt der 1974 in Illinois geborene, in Florida aufgewachsene Joshua Ferris mit diabolischer Präzision. Der Wettlauf um die Rettung ist mit Missverständnissen gepflastert. Sophie und Tom sind eigentlich auf dem Weg zu einem Abendessen mit ihren Eltern. Da meint Sophie die Frau zu entdecken, mit der ihr Mann eine Affäre hatte. Und schon schert sie aus und setzt sich auf deren Spur. Sie beobachtet die Frau und vergleicht sich mit ihr. "Schöner" ist die andere auf jeden Fall. Womöglich lachen alle über ihre Zuverlässigkeit als Notärztin mit Harvard-Abschluss. Hat ihr Mann nicht neulich gesagt, alle hätten Affären?

Während Sophie sich immer weiter in die Herausforderung hineinsteigert und am Ende in sexuelles Brachland vorwagt, greift ihr Mann zum beruhigenden Klassifikationsmuster dualen Denkens. Für ihn ist die Sache klar: Entweder seine Frau verzeiht ihm den vermeintlichen Fehltritt (tatsächlich handelt es sich um ein längeres Verhältnis) oder eben nicht. Doch im Restaurant warten nicht nur die Schwiegereltern. Es wartet auch eine böse Überraschung auf ihn.

Im 2017 erschienenen Original trägt der Sammelband mit elf Geschichten den Titel "The Dinner Party", nach einer vor zehn Jahren erschienenen Erzählung. Sie verwandelt das latente Unglück ungewollter Kinderlosigkeit in einen melancholischen Slapstick, der die Absehbarkeit durchschnittlicher Lebensläufe ebenso karikiert wie als Wunschbild zeigt.

Auch wenn der deutsche Titel, "Männer, die sich schlecht benehmen", prosaischer klingt, trifft er den Tenor der Geschichten gut. In seinem Debütroman "Wir waren unsterblich" ("Then We Came to the End", 2007) hat Joshua Ferris vom Büroalltag erzählt und wählte dafür die Perspektive eines "Wir". Auch in seinen Erzählungen sind die Perspektiven oft so miteinander verknotet, dass sie sich kaum unterscheiden lassen. Das hat Methode. Die Männer sind als Charaktere einfacher gestrickt und partizipieren am rhetorischen Aufwand weiblicher Weltdeutung.

Amerikanische Literatur: Joshua Ferris: Männer, die sich schlecht benehmen. Stories. Aus dem Amerikanischen von Marcus Ingendaay. Luchterhand Literaturverlag, München 2018. 288 Seiten, 20 Euro.

Joshua Ferris: Männer, die sich schlecht benehmen. Stories. Aus dem Amerikanischen von Marcus Ingendaay. Luchterhand Literaturverlag, München 2018. 288 Seiten, 20 Euro.

"Ein Mann ist ein Ungeheuer", heißt es über den fremdgehenden Anwalt Tom, der sich in der Mittagspause zu seiner Geliebten chauffieren lässt. Seine "Reise in einem Zeitportal" - "whoosh!" - macht ihm durch die ökonomische Verquickung mit der Arbeit zusätzliches Vergnügen. Wie in Don DeLillos "Cosmopolis" wird das Auto zum filmreifen Symbol männlichen Rückzugs in eine Sphäre aus Macht, Sex und Geld: "Es gibt nämlich etwas, das zeitreisende Männer noch weniger kümmert als die Außenwelt vor der Scheibe, und das sind die Gefühle von anderen."

Eine Geschichte spielt in Prag, wo einem dickleibigen amerikanischen Werbefachmann der "historische Mist" erheblich auf die Nerven geht. Doch New York ist der ideale Schauplatz für den Stoff dieser Stories. Sie erzählen von Lebensläufen unter dem Druck der Selbstoptimierung, von Glückszwang und Bewertungskategorien, von Networking und der Qual der Wahl und vor allem von der "Angst, nie das zu erreichen, was immer haarscharf unerreichbar war". Es sind Geschichten einer überspannten Gegenwart, in der zu viele Optionen in ständiger Reichweite sind, um nicht darüber zu stolpern, dass "andere Leute glücklicher sind bzw. mehr aus ihrem Leben herausholen".

Joshua Ferris ist dort am besten, wo er die Einsicht in diese Dynamik melancholisch grundiert, etwa wenn er den Ex-Geliebten einer Mutter, die ihrem Sohn erklärt, Männer seien die "Sauerei" nicht wert, die sie ständig machen, über den Jungen denken lässt: "Der Kleine ist wirklich ein Unglücksrabe (...). In so einem Leben geht nie etwas von selbst und nie etwas gut aus." Es gibt größere Katastrophen, als sich zwischen vielen Optionen entscheiden zu müssen. Dass es sich bei den Neurosen moderner Großstadtbewohner trotz allem um Privilegien handelt, ist offensichtlich. Die Geschwindigkeit des Schlagabtauschs und der Sinn für Komik dieser Geschichten erinnern an Sitcoms. Joshua Ferris transferiert den Hang zum Aufgekratzten in einen Tonfall, der dem stillen Lesen entgegenkommt und dennoch sein Tempo hält - ein erstaunliches Kunststück.

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