Manchmal schaut sie, in sich selbst versunken, als müsse sie eine schreckliche Last mit sich herumtragen und würde am liebsten verschwinden. Spricht sie dann jemand an und fragt etwas, am besten etwas sehr Kluges oder sehr Dummes, dann erwacht sie aus diesem Tagalbtraum und grinst mit blitzenden Augen und erwartungsvollem Gesicht, in vollem Bewusstsein ihrer Intelligenz und ihres spröden Charmes.
Ottessa Moshfegh sitzt, gerade aus New York gekommen, in einen dicken grauen Pullover gehüllt und mit leichtem Jetlag in der eigenartig durchgestylten und nur eine Handvoll Bände umfassenden Bibliothek eines Berliner Hotels. Gerade ist "Eileen", der zweite Roman der 36 Jahre alten Amerikanerin, auf Deutsch erschienen, es ist ihre erste Lesereise durch Europa. "Eileen" ist der Blick in die abgründige Psyche der titelgebenden jungen Frau, die an Weihnachten 1964 beschließt, unter ihr Leben als Sekretärin in einem Jugendgefängnis in dem trostlosen Ostküstenstädtchen X-Ville und in dem zugemüllten Haus, das sie sich mit dem Alkoholikervater teilt, einen Schlussstrich zu ziehen. Sie hat aber keinen Plan, wie das vonstattengehen soll und sieht als letzten Ausweg nur Gewalt.
Der Roman war ein internationaler Erfolg, wurde in bisher zehn Sprachen übersetzt, stand auf der Shortlist des Man Booker Prize, eines der wichtigsten Preise für englischsprachige Literatur, und die Filmrechte sind an den berühmten Hollywoodproduzenten Scott Rudin verkauft. Die Kritik lobte den Roman. "Eileen" geht in eine psychologische Tiefe und zeigt eine Beobachtungsgabe für die kleinsten Details, wie sie jeder Autor anstrebt, aber wenige so gezielt einzusetzen wissen.
Dieser Erfolg aber war ein Stück weit kalkuliert. Nach dem Kampf um jedes Wort, als den sie die Arbeit an ihrem ersten Roman "McGlue" beschreibt, hielt sie sich bei dem ersten Entwurf für "Eileen" an einen Bestsellerratgeber: "Wie man in 30 Tagen einen Roman schreibt" hieß das Buch, und tatsächlich hatte sie danach eine erste Fassung des Romans. Diese überarbeitete sie fünfmal, 500 Seiten wurden insgesamt gestrichen, gut 250 schafften es in das fertige Buch. Moshfegh nimmt die Ausgabe von "McGlue" in die Hand, die in Berlin auf dem Tisch liegt. Ihr erster Roman ist der Bewusstseinsstrom eines psychisch gestörten Seemanns, dem der Prozess gemacht werden soll, weil er unter Verdacht steht, seinen Kameraden ermordet zu haben.
Ihre Romane und Kurzgeschichten sind voller abgründiger Gestalten
"Der Verstand, der das geschrieben hat", erklärt Moshfegh über sich selbst, "fragte sich, was wohl passieren würde, wenn er versucht, mit dieser Stimme konventionell zu erzählen. Am Ende kam 'Eileen', dieser Bastard, dabei heraus."
Moshfeghs Romane und Kurzgeschichten sind voller verzweifelter und zweifelhafter Gestalten: mögliche Mörder, alkoholkranke Lehrerinnen, Männer, die ihre Homosexualität unterdrücken, oder eben Eileen, mit ihren Gewalt- und Sexfantasien. Fast alle haben Geheimnisse, die vor dem Leser ausgebreitet werden. "Was wäre denn das Spannendste, das man sich vorstellen kann zu lesen?", fragt Moshfegh mit einem ironischen Grinsen. "So etwas wie das Tagebuch des eigenen Freundes. Was da wohl alles drinsteht? Ich finde es interessant, wenn etwas enthüllt wird, was sonst nie ans Tageslicht kommen würde. Das ist es, was mich mit anderen verbindet. Es ist auch eine Erleichterung zu hören, dass wir uns in vielen Sachen sehr ähnlich sind."
Literatur ist auch immer ein Medium der Selbstvergewisserung. Moshfegh verfolgt mit den dunklen Geheimnissen ihrer Figuren aber noch etwas anderes: "Literatur hat diesen elitären Status. Angeblich muss man sehr gebildet sein, um sie zu verstehen, und um gebildet zu sein, muss man reich sein. Deshalb verstehe man Literatur nur, wenn man eine besondere Erziehung genossen hat. Das fand ich immer dumm. Deshalb nehme ich diesen elitären Kram und packe alle möglichen ekligen Sachen rein."
Moshfegh wuchs in Newton, Massachusetts, auf, das angeblich zu den sichersten Städten der USA zählt und zu denen mit der höchsten Anzahl an Psychologen pro Einwohner. Ihre Heimat ist eines der Vorbilder für X-Ville, das Städtchen aus "Eileen". Der Vater kam aus Iran, die Mutter aus Kroatien. Beide sind Musiker und landeten nach mehreren Stationen in Europa in den USA. 1981 wurde Ottessa in Boston geboren. Mit den Heimatländern ihrer Eltern hat sie nichts zu tun, sie war nur ein Mal in Kroatien und nie in Iran. "Viele fragen, warum ich nicht über meine Herkunft schreibe, wie andere Kinder von Migranten. Meine Eltern aber haben ihre Heimat komplett aufgegeben, als sie in die USA gekommen sind. Ich bin deshalb völlig amerikanisch aufgewachsen."
Beeinflusst hat sie vor allem ihr erster Klavierlehrer. "Ich habe von ihm viel gelernt, was man in den Schreibschulen nicht beigebracht bekommt: Ausdruck, subtile Nuancen, die emotionale Kadenz eines Satzes. Das habe ich alles durch die Musik gelernt." Noch immer hält sie sich beim Schreiben an die Lektionen aus dem Musikunterricht: "Wenn ich schreibe, komme ich dieser Stimme in meinem Kopf immer näher und näher. Beim fünften Überarbeiten ist es, als würde man einen Song hören, den man schon kennt. Und ich kann dann genau in diesem Ton schreiben." Das Musikmachen hat sie aber inzwischen für das Schreiben aufgegeben.
Mit 13 Jahren wusste sie bereits, dass sie Schriftstellerin werden wollte: "Ich entdeckte irgendwann, dass ich etwas zu sagen hatte und dass das etwas Größeres war als ich selbst. Irgendwann konnte ich es einfach nicht mehr leugnen und wollte herausfinden, was da in mir war." Sie studierte Anglistik und kreatives Schreiben am Bard College, ging dann für zwei Jahre nach China, eigentlich, um Englisch zu unterrichten. Am Ende betrieb sie mit Freunden einen Nachtclub. Zurück in den USA studierte sie weiter kreatives Schreiben an der Brown University und verfasste vor allem experimentelle Texte, was sich an "McGlue" noch erahnen lässt.
Diskussionen über Sexismus im Literaturbetrieb nerven sie nur
Publizistischen Erfolg hat sie seit etwa fünf Jahren, seit sie ihren Texten eine Handlung gönnt. In den USA ist bereits ihr nächstes Buch erschienen, "Homesick for Another World", eine Sammlung mit teils frühen Kurzgeschichten. Im kommenden Jahr erscheint der neue Roman. Es geht um eine junge Frau, die um die Jahrtausendwende beschließt, ein Jahr im Winterschlaf zu verbringen.
Jahrzehntelang war der typische amerikanische Schriftsteller ein weißer, alter Mann, der den großen Gesellschaftsroman schreibt. Als junge Autorin, Tochter von Migranten, wird Moshfegh oft mit diesem Klischee konfrontiert, obwohl es schon lange nicht mehr den Tatsachen entspricht. "Wenn man einen komischen Namen hat und eine Frau ist, dann steht man symbolisch gegen dieses Klischee. Die harte Arbeit, die man in die Bücher steckt, zählt aber nicht richtig, sondern viele denken, man werde bevorzugt, weil man eben nicht der Norm entspricht." Schon die Debatte um Sexismus im Literaturbetrieb nervt sie: "Ich vermeide alle Diskussionen, die sich um solche Themen drehen. Ich benutze keine sozialen Medien und bin nicht in irgendwelchen Schriftstellervereinigungen. Ich bin antisozial und ich fühle für mich überhaupt keine Verantwortung, irgendetwas zu ändern. Ich bin kein Held, ich bin nur eine Schriftstellerin."