Amerikanische Literatur:Jeder ein Sprachrohr seiner Klasse

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Der Erfolg seines Debüts „Sohn dieses Landes“ machte Richard Wright zum reichsten schwarzen Autor seiner Zeit. (Foto: Amerikahaus)

Die Neuauflage von Richard Wrights Rassismusklassiker "Sohn dieses Landes" offenbart: Der Roman ist nicht gut gealtert.

Von Frauke Meyer-Gosau

Alles beginnt mit einem durchdringenden Geräusch - "Brrrrrrrr!" -, das Klingeln des Weckers reißt die schwarze Familie Thomas im Chicago der Dreißigerjahre aus dem Schlaf. Vier Menschen leben hier in einem einzigen Zimmer, die Mutter und ihre kleine Tochter teilen sich das eine Bett, im anderen liegen der halbwüchsige Buddy und sein 20-jähriger Bruder Bigger. Dessen erste Aufgabe wird es an diesem Morgen sein, eine fette, fiepende Ratte durch den Raum zu jagen und dann mit einem wuchtigen Schaufelhieb zu erschlagen - mit einem Gewaltakt fängt dieser kalte Wintertag an, in derselben Nacht wird er in einem Mord gipfeln. Denn Gewalt prägt Richard Wrights 1940 erschienenen Roman "Sohn dieses Landes" auf allen Ebenen, bis hin zum scheinbar unausweichlichen Ende: Die Beziehungen zwischen Schwarz und Weiß, zwischen Reich und Arm, und wie selbstverständlich auch das Verhältnis von Männern und Frauen, sind von Rücksichtslosigkeit, Entrechtung und Brutalität bestimmt.

Richard Wright war selbst schwarz. Geboren 1908 im Bundesstaat Mississippi und 1927 mit Mutter und Bruder im Zuge der "Großen Migration" nach Chicago gekommen, kannte er Rassendiskriminierung aus eigener Erfahrung. Aber er war auch Kommunist, und beide Weltsichten zusammen bestimmten Handlung und Perspektive in "Sohn dieses Landes". Bigger Thomas ist dessen Hauptfigur, zu Armut und Aussichtslosigkeit als "Neger" wie als Angehöriger des Subproletariats gleich doppelt verdammt. Und doch scheint sich zunächst ein glücklicher Ausweg anzubahnen: Bigger, der nach verschiedenen kleinkriminellen Delikten in einer Besserungsanstalt eingesessen hat, erhält nach seiner Entlassung die Chance, für den schwerreichen (und natürlich weißen) Unternehmer Mr Dalton als dessen Chauffeur zu arbeiten.

Mutter und Geschwister sind begeistert, Bigger dagegen durchaus nicht. Lieber würde er mit seinen Kumpels einen weißen Ladenbesitzer ausrauben, und wenn das nicht klappt, ins Kino gehen, trinken und mit seiner Freundin Bessie schlafen - regelmäßige Arbeit gehört nicht zu seinem Lebenskonzept. Und doch stellt er sich am Abend bei Mr Dalton in dessen Villa in aller erwarteten Untertänigkeit vor.

So nimmt das Unheil seinen Lauf, nicht lange, und Bigger Thomas wird zum Mörder. Nach einer alkoholgesättigten abendlichen Tour mit Mr Daltons Tochter Mary und deren Geliebtem, dem (weißen) Kommunisten Jan, erstickt er die sturzbetrunkene Mary mit einem Kissen - eher versehentlich, wie es heißt, zum Selbstschutz. Und ist von nun an auf der Flucht. Nach abenteuerlichen Versuchen, über die schneebedeckten Dächer Chicagos zu entkommen, nach der Vergewaltigung und Ermordung auch seiner Freundin (wiederum: aus Selbstschutz) wird er festgesetzt und schließlich wegen zweifachen Mordes vor Gericht gestellt. Obwohl sich sein engagierter kommunistisch-jüdischer Anwalt Boris Max für ihn ins Zeug legt, wird Bigger zum Tode verurteilt. Rassendiskriminierung und Klassengesellschaft haben ihn in der Sicht des Autors zum Verbrecher gemacht.

Orson Welles brachte das Buch zum Broadway, 1951 wurde es verfilmt - mit dem Autor in der Hauptrolle

Erstaunlich an diesem Roman ist vieles. Als er im Frühjahr 1940 erschien, waren innerhalb von drei Wochen 250 000 Exemplare verkauft. Sein Erfolg machte Richard Wright zum reichsten schwarzen Autor der Vereinigten Staaten. Das Buch wurde Schullektüre. Orson Welles brachte es am Broadway auf die Bühne, 1951 gab es eine Verfilmung mit dem Autor in der Hauptrolle. Ein weiterer Film kam 1986 in die Kinos, und gerade erst wurde der Stoff für eine TV-Serie modernisiert. Richard Wright gilt aufgrund dieses Romans als "Vater der afro-amerikanischen Literatur", und immer noch wird "Sohn dieses Landes" zu den einhundert wichtigsten amerikanischen Romanen gezählt.

Wer ihn heute liest, wird allerdings mit etlichen Problemen zu kämpfen haben. Das liegt nicht nur an der bewusst rohen Sprache, die an die Gangsterromane der Vierzigerjahre erinnert. Es liegt vor allem an den stereotyp gezeichneten Figuren, die sich in einer unentrinnbaren gesellschaftlichen Mechanik bewegen, jeder ein Sprachrohr seiner Klasse: Die Schwarzen sind entrechtet, also voller Hass gegen alle und alles, die Weißen können allein aufgrund ihres Weiß-Seins nicht verstehen, was es heißt, diskriminiert zu sein - auch ein Wohltäter wie Mr Dalton oder ein Kommunist wie Biggers Anwalt begreifen es nicht und stehen mit ihrer mitfühlenden Haltung einer tief greifenden Veränderung der Lage der Schwarzen gerade im Wege.

Schon 1948 hatte James Baldwin in einem Essay über Richard Wrights "Protest Novel" das holzschnittartige Menschen- und Gesellschaftsbild des Romans kritisiert. Und tatsächlich war es ja, wie auch andere Kritiker bemängelten, eine einigermaßen gefährliche Sache, dem Bild vom intellektuell beschränkten, triebgesteuerten, arbeitsscheuen, gewalttätigen, alkohollüsternen und reflexhaft brutalen Schwarzen mit dieser Figurenzeichnung Vorschub zu leisten - Bigger Thomas entsprach ziemlich genau den Ressentiments seiner weißen Zeitgenossen und hätte doch nach Richard Wrights Schreib-Intention zuerst deren Einsicht, dann aber ihre revolutionäre Kampfbereitschaft hervorrufen sollen.

Ein "Pamphlet in literarischer Verkleidung" hat James Baldwin den "Sohn dieses Landes" genannt und damit umrissen, was dieses Dokument eines historischen Bewusstseins- und Gesellschaftszustands heutigen Lesern so unbekömmlich macht: nicht nur die wie Marionetten ihrer Klassenlage agierenden Figuren mitsamt zunehmend uferlosen Tiraden über den himmelschreienden Zustand der Gesellschaft, sondern eben auch die Selbstverständlichkeit, mit der Frauen hier gesehen, benutzt, und, sobald sie lästig zu fallen drohen, aus der Welt geschafft werden.

Richard Wright: Sohn dieses Landes. Roman. Aus dem Amerikanischen von Klaus Lambrecht. Kein & Aber Verlag, Zürich 2019. 576 Seiten, 24 Euro.

© SZ vom 12.08.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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