Amazons E-Book-Geschäft:Angst vor dem Großen Bruder

Über Nacht hat Amazon die E-Book-Version von Orwells "1984" gelöscht. Das wirft viele Fragen auf - vor allem nach der Macht, Bücher einfach per Fernbedienung verschwinden lassen zu können.

Niklas Hofmann

Die Entschuldigung des Großen Bruders war knapp, aber unumwunden. "Dumm" und "gedankenlos", nannte Jeff Bezos, der Vorstandschef von Amazon am vergangenen Donnerstag das Vorgehen seiner Firma, die eine Woche zuvor über Nacht von den Kindle-E-Book-Readern ihrer Kunden die elektronischen Ausgaben von Orwells "1984" und "Farm der Tiere" gelöscht hatte.

Amazons E-Book-Geschäft: Amazon-Vorstandschef Jeff Bezos mit einer Ausgabe des Lesegeräts Kindle.

Amazon-Vorstandschef Jeff Bezos mit einer Ausgabe des Lesegeräts Kindle.

(Foto: Foto: AFP)

Die Kunden hatten diese zwar bezahlt, hätten sie aber offenbar gar nicht erwerben dürfen, weil, wie Amazon später erklärte, der Verlag, der sie im Kindle-Store anbot, nicht im Besitz der Rechte war. "Vollständig selbst verschuldet" sei die heftige Kritik, der man nun ausgesetzt sei, so Bezos. In Zukunft, hatte Amazon schon zuvor versichert, werde man in solch einer Situation nicht noch einmal in gleicher Weise handeln.

300.000 Online-Bücher im Kindle-Store

Doch dieses Versprechen hat wenig getan, um das besorgte Murren abebben zu lassen, dass sich seit der Löschaktion in der digitalen Gesellschaft erhoben hat. Die Eroberung des deutschen Marktes scheint Amazon zwar auf absehbare Zeit wegen der Preisvorstellungen der hiesigen Mobilfunkunternehmen abgeblasen zu haben.

Aber in Amerika ist der Kindle-Store, der mehr als 300.000 Bücher vorhält, schon eben so sehr zum Synonym für den E-Book-Handel geworden, wie es Apple mit seinem iTunes im Musikgeschäft gelungen ist. Der Orwell-Vorfall regt nun die Fantasie an, zu welchen Zwecken Amazon seine dominierende Stellung ausnutzen könnte - und welche technischen Möglichkeiten sich die Firma dafür vorbehalten hat. Die Saat des Misstrauens ist gesät.

"Ich will meinen Kindle doch lieben", beteuerte etwa Cory Doctorow bei Boingboing.net. Aber das könne er nicht mehr, solange Amazon nicht offenlege, welche Eingriffsmöglichkeiten man unter welchen Umständen zu nutzen vorhabe. Die vollständige Löschung von Büchern ist dabei nicht das einzige Schreckgespenst.

Die Update-Funktionen, die mehr oder weniger subtile Änderungen im Text ermöglichen, sind ein anderes. Schon im Februar hatte Nicholas Carr im Blog der Encyclopaedia Britannica dazu aufgefordert, zu bedenken, wohin es führen könne, dass Texte in E-Books immer nur "vorläufig" seien. "Was ja für Reiseführer in Ordnung ist, aber was ist mit anderen Büchern?" Werden wir also irgendwann in dem Werk, in dem wir uns abends noch über den Konflikt mit Eurasien informiert haben, am nächsten Morgen lesen, dass wir uns schon immer im Krieg mit Ostasien befunden haben?

Durchgriff auf das Wissen der Menschheit

So lange gedruckte Bücher existieren, muss man sich vor Amazons Durchgriff auf das Wissen der Menschheit zwar nicht allzu sehr ängstigen. Aber gerade denjenigen, die sich wie Slate-Autor Farhad Manjoo eigentlich für die Vision einer papierlosen Zukunft begeistern können, wird es zusehends mulmig: "Die Macht, Ihre Bücher, Filme und Musik per Fernbedienung zu löschen, ist eine Macht, die niemand haben sollte", schreibt Manjoo und fordert, um Missbrauch zu verhindern, die Möglichkeiten dazu aus der Kindle-Technik zu entfernen.

Man muss sich die Löschinstrumente gar nicht einmal in den Händen eines Überwachungssystems à la Orwell oder Bradbury vorstellen. Vielen scheint nun erst vollständig bewusst zu werden, worauf Blogger wie der Jura-Dozent James Grimmelmann schon vor längerer Zeit hingeweisen haben: Ein Kindle-Buch wird man, jedenfalls nach dem aktuell vorherrschenden Geschäftsmodell, nie in gleicher Weise besitzen wie ein papierenes.

Denn Amazon überlässt nur ein Nutzungsrecht, das Weiterverkauf und Verleih ohnehin ausschließt. Dadurch bleibt die Firma, anders als ein herkömmlicher Buchhändler, aber auch lange nach dem Verkauf eines elektronischen Buchs juristische Partei, wann auch immer jemand dessen Verbreitung verhindern will.

Es ist da wohl nur eine Frage der Zeit bis Gerichte den ersten Löschwunsch wegen verletzten Persönlichkeitsrechten zu klären haben. Was wäre etwa passiert, wenn die Klägerinnen gegen Maxim Billers "Esra" die Möglichkeit gesehen hätten, nicht nur Bücher aus dem Handel zurückrufen zu lassen, sondern auch bereits längst verkaufte Exemplare aus allen digitalen Bibliotheken zu löschen?

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