Amazon liest mit:Was einen anspringt

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Das Ende des einsamen Lesers: Mit seinem Programm "Popular Highlights" speichert Amazon alle Markierungen, die der Kunde in einem Buch macht - und reagiert darauf.

Jörg Häntzschel

Zu den schönen und rätselhaften Vergnügen des Lesens gehört das Anstreichen, Unterstreichen, Markieren. Besonders tiefsinnige Passagen und herausragende Sätze, miese Bilder und Satzfehler: Was einen anspringt, was einen berührt, das ruft nach einer Antwort. Dafür gibt es den Bleistift. Dass die meisten Leser ihre Anstreichungen nie wieder aufsuchen, und wenn sie es tun, keine Ahnung haben, was an den Stellen so interessant gewesen sein soll, hält sie nicht davon ab, beim nächsten Buch wieder nach dem Bleistift zu tasten.

Sind wir nicht alle ein bisschen Amazon? Was einmal Privatsache war, wird durch die soziale Verlinkung zum Kollektiverlebnis. Proteste gibt es kaum. (Foto: ddp)

Alle E-Book-Reader haben eine Markierfunktion, die das Anstreichen auch auf dem kleinen Bildschirm möglich macht, wenn auch ohne die emotionale Bandbreite, die der Bleistiftstrich auszudrücken in der Lage ist. Amazon jedoch macht mit dem Kindle seit einigen Monaten etwas völlig Neues. Mit dem letzten Software-Update hat der E-Book-Pionier eine Feedback-Schleife installiert, die jede Anstreichung zur Stimme in einem öffentlichen Referendum über die wichtigsten Passagen eines Buchs macht. Jede Markierung, die ein Leser auf seinem Kindle vornimmt, wird bei Amazon gespeichert. Wenn mindestens drei Leser dieselbe Stelle markieren, erscheint diese unter "Popular Highlights" auf der Amazon-Website.

Die Spuren früherer Leser

Doch damit nicht genug: Der Kindle zeigt die häufig von anderen markierten Stellen in den E-Books bereits als markiert an. Es ist möglich, sowohl den automatischen Upload der eigenen Markierungen als auch die Anzeige der Markierungen anderer abzustellen, doch das erfordert einige Initiative. Außerdem, so warnt Amazon, verlöre man in diesem Fall die eigenen Anmerkungen, wenn das Gerät kaputt oder verloren geht.

"Popular Highlights" hat eine Reihe von Konsequenzen: Das frisch gekaufte Buch trägt schon die Spuren früherer Leser, so wie schlecht behandelte Bände aus der Bibliothek. Das früher einsame Lesen bekommt Züge eines Kollektiverlebnisses wie der Kinobesuch. So wie das Gelächter des übrigen Publikums die eigene Wahrnehmung des Films beeinflusst, setzt sich der Kindle-Leser unwillkürlich mit Schwachsinn oder Weisheit seiner Vor-Leser auseinander. Außerdem stellt sich die Frage, ob die markierten Stellen nun Teil des Buchs werden. Und, da sie sich ja täglich verändern, welche Version dann die gültige ist.

Die Fans des Internet 2.0 rühmen bekanntlich die "Weisheit der Menge". Bei Google wird sie zugunsten von Suchergebnislisten angezapft, die so gut sind, dass es schon unheimlich ist. Doch es erfordert wohl noch viel kollektives Anstreichen, bis "Popular Highlights" ähnliche Resultate liefert. Wer hofft, er könne damit die besten, bewegendsten, großartigsten Passagen der Weltliteratur direkt ansteuern, wird enttäuscht.

Das Ranking der am häufigsten markierten Bücher wird von Dan Browns The Lost Symbol angeführt, auf Platz zwei steht die Bekehrungsschwarte The Shack ( Die Hütte), und dann kommt die Bibel. Die beliebteste Passage aller Zeiten ist ein Gemeinplatz aus dem ewigen Beststeller Outliers des Erfolgsautors Malcolm Gladwell: "Diese drei Dinge - Autonomie, Komplexität und eine Verbindung zwischen Aufwand und Belohnung - sind, darin sind sich die meisten einig, die drei Eigenschaften, die Arbeit haben muss, um befriedigend zu sein."

In den USA, wo man aller Freiheits-Mythologie zum Trotz, entspannter mit seinen Daten umgeht als in Europa, hat sich bislang wenig Protest erhoben gegen die soziale Verlinkung der früher höchst privaten Auseinandersetzung mit einem Buch. Manche Kindle-Leser begrüßen die Funktion als eine Art technologische Simulation der beliebten Buchclubs. Andere jedoch reagierten kritischer. Dass der Internet-Händler jeden unserer Käufe beobachtet und mit eigenen Empfehlungen reagiert, ist bekannt.

Der Verlust der Einsamkeit

Warum also nicht die Anstreichungen ebenfalls in diesen Datentopf rühren? Irgendein Produkt, für das ich mich interessieren könnte, werden die Amazon-Algorithmen aus den Passagen, die ich etwa in Jonathan Franzens Freedom anstreiche, schon finden. Vielleicht eine kritische Auseinandersetzung mit der Bush-Präsidentschaft? Oder ein Vogelbestimmungsbuch?

Amazon veröffentlicht die Daten anonym, doch auf den eigenen Servern sind sie mit den Kundennamen verbunden. Paul Stephens vom Privacy Rights Clearinghouse findet die Funktion denn auch "besorgniserregend": "Was wird aus dem wichtigen Prinzip, dass das Lesen eine Privatsache ist?" Unbemerkt von vielen häuft die Funktion auf den Amazon-Datenbanken wahre Datenschätze für Polizei und Gerichte an, meint er.

Allerdings gilt das natürlich nicht nur für das Anstreichen, sondern auch für das Kaufen von E-Books. So traurig und beunruhigend der Verlust der Einsamkeit beim Lesen ist: Verglichen mit der Datenspur, die wir mit Gmail, Dropbox und dem Cloud-Computing überhaupt hinterlassen, dürfte er wohl eher harmlos sein.

© SZ vom 28.10.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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