Süddeutsche Zeitung

"Amazing Grace":Abschiedsgottesdienst für eine übernatürliche Stimme

  • Mit "Amazing Grace" kommen erstmals Aufnahmen von Soul-Legende Aretha Franklin ins Kino, die fast fünf Jahrzehnte lang im Keller lagen.
  • Mit den Live-Aufnahmen von Franklin zeigen diese ein Zeitdokument von ungeheurer Schönheit - und Mick Jagger und Charlie Watts, die in den hinteren Reihen mitklatschen.

Von Annett Scheffel

Gegen Ende des zweiten Abends steht Aretha Franklins Vater auf, um ein paar Worte an das Publikum zu richten. Das Publikum ist eine Kirchengemeinde. Reverend C. L. Franklin, ein Schwergewicht in der Bürgerrechtsbewegung, spricht über die Stimme seiner Tochter, deren Kraft, wie er sagt, so schwer zu beschreiben ist.

Es ist 1972, und Aretha hat, seitdem sie fünf Jahre zuvor zu Atlantic Records gewechselt ist, eine beeindruckende Serie von 21 Singles in den US-Top-20 geschafft. Und Reverend Franklin erzählt noch eine kleine, aber entscheidende Anekdote davon, wie er neulich seine Wäsche aus der Reinigung geholt habe und die Ladenbesitzerin, die Aretha in einer TV-Show gesehen hatte, zu ihm gesagt habe, besser fände sie es, wenn seine Tochter wieder in der Kirche sänge. Seine Antwort, sagt er im Ton eines Predigers: "Sie hat die Kirche nie verlassen."

Dieser Satz ist so etwas wie der inoffizielle Untertitel des Dokumentarfilms, der mit 47 Jahren Verspätung in die Kinos kommt. Wie groß das Interesse daran ist, zeigten im vergangenen November Menschenschlangen vor New Yorker Kinos, die den Film im Rahmen des Dokumentarfilmfestivals zeigten. Viel Lob erhielt der Film im Februar auch bei seiner europäischen Premiere bei der Berlinale. "Amazing Grace" zeigt die Liveaufnahmen zu Aretha Franklins gleichnamigem Album im Januar 1972. An zwei Abenden sang die Queen of Soul in der New Temple Missionary Baptist Church in Los Angeles die Gospelsongs ihrer Kindheit. Im Film sieht man genau das - und nur das. Keine Talking Heads, die erklären, welche Bedeutung dieses oder jenes Stück hat. Nur die Musik, nur Arethas Stimme, nur der Southern California Community Choir hinter und die Gesichter der Gemeinde vor ihr. Es ist kein Konzert im üblichen Sinne, keine Show, kein Pop-Spektakel, sondern ein Prozess, in dem der transzendente Charakter von Musik in berührender Weise aufscheint.

Zweimal klagte Aretha Franklin gegen die Veröffentlichung des Dokumentarfilms, warum ist unklar

Schon das Album allein, das im Gegensatz zur Dokumentation 1972 planmäßig erschien, markiert eine Besonderheit in Aretha Franklins Karriere. Dass sie sich auf dem Höhepunkt ihres Erfolgs entschied, ein Gospelalbum aufzunehmen, war ein Risiko, sowohl im Hinblick auf das weiße Publikum als auch auf die schwarzen Kirchengänger, die (wie die Frau aus Reverend Franklins Anekdote) fanden, dass sie ihre musikalischen Wurzeln in den Popsongs verwässerte. Trotzdem wurde "Amazing Grace" mit mehr als zwei Millionen verkauften Exemplaren zum erfolgreichsten Gospelalbum aller Zeiten, Arethas Bestseller.

Umso seltsamer erscheint es heute, dass die dazugehörigen Filmaufnahmen, die Warner Bros., der Mutterkonzern von Franklins Plattenfirma, damals unter Regie von Sydney Pollack ("Die drei Tage des Condor") in Auftrag gegeben hatte, jahrzehntelang in den Archiven verstaubten. Zunächst lag das wohl an einem technischen Problem. Pollack, der keine Erfahrung im dokumentarischen Bereich hatte, verwendete keine Filmklappen, was bei der Synchronisierung von Bild und Ton zu erheblichen Schwierigkeiten führte. Als Regisseur Alan Elliott 2007 die Rechte an den Aufnahmen erwarb, stellte ihn aber Franklin selbst vor die größten Probleme. Zweimal klagte sie gegen die Veröffentlichung des Films. Über ihre Gründe kann man nur spekulieren, vor allem, weil man nun im Film sieht, wie viel auch ihr diese zwei Abende bedeuteten. Möglich, dass sie mehr Geld wollte. Möglich auch, dass der Groll darüber noch zu tief saß, dass ihr damals der Weg zur Filmkarriere versperrt blieb, den Sängerinnen wie Barbra Streisand oder Diana Ross eingeschlagen hatten. Vielleicht wollte sie auch einfach nicht an die eigene Vergänglichkeit erinnert werden. Im Film singt ihr 29-jähriges Ich, strahlend vor Selbstsicherheit, den alten Südstaatengospel "Never Grow Old", der erste Song, den sie je aufgenommen hatte, damals mit 14 in der Baptistenkirche ihres Vaters, und in dem es diese Zeile gibt, über ein Land, in dem man niemals alt wird. Wahrscheinlich war das zu schmerzhaft für eine alternde Diva, die auf das Ende ihrer Karriere und ihres Lebens zusteuerte.

Dass man "Amazing Grace" nach ihrem Tod im August 2018 nun doch endlich sehen kann, ist ein großes Glück. Es ist ein Abschiedsgottesdienst für diese übernatürliche Stimme. Was wir sehen - und das ist Alan Elliotts große Leistung - ist die unberührte Prächtigkeit eines Rohzustands. Nichts ist auffällig überarbeitet, nichts gestochen scharf. Man sieht das Alter des Filmmaterials und die Kabel der Kameramänner, die einige Male durchs Bild huschen. Die Beleuchtung ist zweckmäßig, gerade hell genug, um den kahlen, halbhohen Raum mit seinen blauen Sitzreihen aus seiner muffigen Dunkelheit zu heben.

Das Genre hätte eigentlich besser Gospel & Blues anstatt Rhythm & Blues heißen müssen

"Amazing Grace" ist ein Tunnel in eine andere Zeit. Und auf das, was man sieht, können einen die Tonaufnahmen des Albums nur bedingt vorbereiten. Auf der Platte hört man Arethas Gesang, ihr warmes Timbre und die blitzsaubere Phrasierung, aber man sieht nicht, wie sie beim Singen die Augen zusammenkneift oder wie Schweißperlen ihr Gesicht umrahmen, einer funkelnden Korona gleich. Auf der Platte hört man vereinzelt Rufe aus dem Publikum, "Go, Aretha!", blickt aber nicht in die Gesichter dieser Menschen. Sieht nicht, wie die Chorsänger in ihren putzigen silbernen Westen ergriffen aufspringen und wild gestikulieren, während Franklin die Titelhymne zu einer 16-minütigen Tour de Force ausdehnt, wie erst ein junger Mann mit Schnauzbart anfängt zu weinen, dann etliche andere und am Ende sogar die Sängerin selbst. Man sieht nicht, wie ein junges Mädchen in einem rosafarbenen Satinkleid mit heiligem Eifer zwischen den Stuhlreihen tanzt. Nicht die versunkene Miene der legendären Gospelsängerin Clara Ward, Franklins Idol aus Jugendtagen, die in der ersten Reihe neben ihrem Vater sitzt.

Man sieht nicht, dass in einer der hinteren Reihen Mick Jagger und Charlie Watts von den Rolling Stones mitklatschen. Nicht die feinen, scharfkantigen Handbewegungen des Chorleiters Alexander Hamilton. Nicht den Reverend der Gemeinde, Gospelmusiker James Cleveland, am Piano oder beim Ankündigen der Lieder. "Als Tochter eines Baptistenpastors lernst du diesen Song, bevor du alles andere kannst", sagt er über "What A Friend We Have In Jesus". Er ist der Erzähler des Films, einen anderen gibt es nicht. Aretha sagt nichts. Das Predigen überlässt sie anderen. Sie singt.

Viel plastischer, als es eine Tonaufnahme je vermag

Das alles ist ein Zeitdokument von ungeheurer Schönheit. Es erzählt auch die Geschichte des Albums "Amazing Grace", das zu den besten ihrer gesamten Karriere gehört, noch einmal neu. Viel plastischer, als es eine Tonaufnahme je vermag, erlebt man hier diese Stimme im Wirkungsraum ihres Ursprungs: dem Gospel.

Aus dem Gospel kommt die ruhige, tief empfundene Selbstgewissheit, die eigentlich immer wichtiger war als ihre Wahnsinnsstimme und die in jedem gesungenen Ton steckte, in den Gospel- und in den Popsongs. In diesem Sinne erzählt "Amazing Grace" auch etwas über den Gospel selbst - oder besser über das Ende einer Entwicklung, seinem Weg in die Populärmusik. Dessen Phrasierungen, Akkordwechsel und rhythmische Verschiebungen seien für die Popmusik so wichtig gewesen, dass es eigentlich Gospel & Blues anstatt Rhythm & Blues hätte heißen müssen, hat Franklins Produzent Jerry Wexler einmal gesagt.

Arethas Gesang in "Amazing Grace" beinhaltet diese gesamte popkulturelle Entwicklung und führt sie gleichzeitig zurück in die Kirche. Eine Rückkehr als sinnliche Erfahrung.

Amazing Grace, USA 2018 - Regie: Sydney Pollack und Alan Elliott. Schnitt: Jeff Buchanan. Mit: Aretha Franklin, James Cleveland, C. L. Franklin, Clara Ward, Alexander Hamilton, Mick Jagger, Charlie Watts, Bernard Pretty Purdie. Weltkino Filmverleih, 87 Minuten.

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Quelle:
SZ vom 30.11.2019/qli
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