"Am Ufer" von Rafael Chirbes:Immer wieder im Sumpf

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"Von der Terrasse aus sehe ich die unbewegten Kräne über dem halb fertigen Wohnblock": Aufgegebenes Bauprojekt bei Madrid.

(Foto: Bloomberg)

Gebrochen und gallig durchtränkt: In seinem in aller Bitterkeit großartigen Roman "Am Ufer" erzählt Rafael Chirbes von seiner Heimat Spanien nach dem Platzen der Immobilienblase.

Von Ralph Hammerthaler

Spanien, sagte ein sozialistischer Wirtschaftsminister, sei das Land Europas, in dem man in der kürzesten Zeit das meiste Geld verdienen kann. Was er nicht sagte: Es ist auch das Land, in dem man in der kürzesten Zeit das meiste Geld verlieren kann. Aber das wusste er damals noch nicht.

Denn den Jahren des Baubooms und der Immobilienspekulation folgte ein beispielloser Zusammenbruch: "Bei mir zu Hause von der Terrasse aus sehe ich die unbewegten Kräne über dem halb fertigen Wohnblock, an manchen von ihnen hängt eine Schubkarre, und diese Schubkarren sind der Stempel unter die Katastrophe, meine Katastrophe, die Aufgabe meiner Projekte, das Zeichen dafür, dass die Kräne unbenutzt sind und die Firma pleite. Ich sehe die Wohnblocks, zum Teil reine Betonskelette, sonst Ziegel, unverputzt. (. . .) Die Kräne: ein Scherenschnitt am Himmel und daran schaukelnd die Schubkarre, wie ein Selbstmörder an seinem Strick."

"Am Ufer" heißt der bittere und in seiner Bitterkeit großartige neue Roman von Rafael Chirbes. Er spielt an nur einem Tag im Dezember, so wie auch seine Romane "Der Fall von Madrid" und "Krematorium" an nur einem Tag spielen. Ein Tag genügt Chirbes, um in gewaltigen inneren Monologen Zeit und Vergangenheit seiner Figuren heraufzubeschwören. Von Zukunft redet hier keiner mehr. Stattdessen reden sie von Pleiten und Pfändungen, von der Arbeit, die sie verloren haben, vom familiären Beistand, ohne den der einzelne vor die Hunde ginge - und immer wieder von Tomás Pedrós.

Krise, Tod und Vergänglichkeit

Im Epilog spricht dieser Pedrós dann selbst, am Flughafen, das Ticket für ein schönes, fernes Land in der Tasche. Die große Sause ist vorbei, jetzt zählen Solidität und Unauffälligkeit. Armut hat beinahe etwas Modisches. Spanien stehen langweilige, traurige Jahre bevor. Eher nüchtern als zerknirscht stellt Pedrós das alles fest, während er darauf wartet, dass sein Flug aufgerufen wird.

Es sieht so aus, als hätte Rafael Chirbes den Roman zur spanischen Krise geschrieben. Aber zum Glück enthält das Buch sehr viel mehr. Chirbes verhandelt darin seine großen, von Roman zu Roman enger geschnürten Themen von Tod und Vergänglichkeit. Vor dem Hintergrund der Krise leuchten sie umso schärfer und unbarmherziger auf. Esteban, Besitzer einer Schreinerei, hat sich mit Pedrós eingelassen und in zweifelhafte Bauprojekte verstrickt. Er wollte in kürzester Zeit das meiste Geld verdienen, dabei hat er in kürzester Zeit nur alles verloren.

Über weite Strecken ist Esteban der Erzähler. "Ich weiß nicht, ob ich es bedauere, nichts Höheres angestrebt zu haben. Hätte ich es, wäre meine Bitterkeit vielleicht noch größer, sie wäre von jener Galle durchtränkt, die meinen Vater sein Leben lang beherrscht und mit der er seine ganze Umgebung vergiftet hat." Chirbes hängt nicht am krisengebeutelten Zeitgeist, sondern sucht für das, was er als erzählenswert erachtet, nach historischen Wurzeln.

Ins Jedermannsgrau gestoßen

Estebans Vater, erklärter Franco-Gegner, saß im Gefängnis und versteckte sich dann eine Zeit lang im nahegelegenen Sumpfgebiet. Erst auf Drängen seiner Frau kehrte er ins Haus zurück, zu Familie und Schreinerei, gebrochen, gallig durchtränkt. Durch den Verzicht auf Höheres erweist sich aber auch Esteban als Kind der Franco-Zeit. Viel später, wenn auch ohne persönlichen Bezug, bemerkt er: "Dem ganzen Land war ein solches Streben ausgetrieben worden. Nichts konnte wachsen und dieses Grau durchbrechen."

Esteban, siebzig Jahre alt, lebenslang im Küstenort Olba daheim, verkörpert dieses Grau. Als er, in Zeiten des Booms, Lust bekommt, mit Farben zu spielen, wird er ins Jedermannsgrau zurückgestoßen, mehr noch, in den Ruin.

Zu Hause pflegt er, seit er die kleine Kolumbianerin nicht mehr bezahlen kann, seinen dementen Vater. Er wäscht ihn, er ekelt sich, er nennt ihn einen Zombie, aber er verliert sich auch in den Anblick der runzligen Hände, "krumme Finger, Hornhaut, ungleichmäßige, deformierte Fingerkuppen, die Werkzeughände". Und er sehnt sich danach, diese Hände zu küssen.

Kleine Verlierer im Blick

Diese kurze, zärtliche Szene zeigt, wie Chirbes die kleinen Verlierer in den Blick nimmt, Handwerksbetriebe, Zulieferer für das große Bauen; Handwerker, die nicht das nächste Flugzeug nehmen können, um der Katastrophe zu entfliehen. Ein Film über die griechische Krise, "The Daughter" von Thanos Anastopoulos, handelt ebenfalls von Handwerkern, die bankrottgehen. Am Ende steht da das Holzlager in Flammen. Auch Esteban weiß sich nicht mehr zu helfen; er sucht und findet eine drastische Lösung.

Einer aus Olba, immerhin, hat es geschafft. Francisco, Estebans Jugendfreund, der auf seine alten Tage in das verschlafene Nest zurückkehrt. Er, aus einer Familie von Franco-Anhängern stammend, ist eine Chirbes-Figur durch und durch. Denn er bringt eine gesellschaftliche Spannung ins Spiel, die auf den Bürgerkrieg zurückgeht. Klar, dass Francisco seinen Vater verachtet, aber dessen Geld nimmt er gern und überhaupt alles, was zu einem guten, wohlhabenden Leben gehört.

Solche Charaktere tauchen bei Chirbes immer wieder auf, weil er sie in Spanien überall findet. Francisco war Chef eines angesehenen Magazins für erlesene Weine, ein Magazin von der Art, wie es auch Chirbes eine Zeit lang ernährt hat. Schon im vorangegangenen Roman "Krematorium" ließ er die Hauptfigur auf dieselbe berufliche Vergangenheit blicken. Noch dazu hat Francisco die Tochter des Fischers geheiratet, Leonor, Estebans frühe große Liebe. Nichts weist darauf hin, dass er von dieser Liaison je etwas erfahren hat. Esteban aber trauert ihr immer noch nach. Dabei hat Leonor, mit weiblichem Instinkt, nur das bessere Los gezogen.

Dieser Roman hat nicht nur einen Epilog, sondern auch einen Prolog. Man muss diesen Prolog, sobald man mit dem Buch durch ist, noch einmal lesen. Denn er schildert das grausame Ende, das man beim ersten Lesen nicht zu deuten weiß. Außerdem erlebt man Chirbes, der sich sonst in kunstvollen Monologen ergeht, hier als Erzähler, distanziert, von außen betrachtend, im Gewand eines Krimiautors. Glaubt man ihm, dann war am Anfang, ehe er zu schreiben begann, nur die Vorstellung von einem Sumpf, in dem Bauschutt und Reste von Tieren und Menschen entsorgt werden. Tatsächlich drängt sich der Sumpf mit seinem Fäulnisgeruch immer wieder auf - als Versteck, als Jagdgebiet, Sexgebiet, Entsorgungsgebiet. Esteban kommt auch gern zum Angeln her.

Im Prolog wirft Ahmed, einer der entlassenen Arbeiter aus der Schreinerei, die Angelrute aus. Zwei Hunde balgen sich um ein Stück Aas. Ahmed beobachtet sie und erkennt eine menschliche Hand im Hundemaul. Angewidert will er nur weglaufen. Aber dann fallen ihm auch zwei Haufen auf, halb im Wasser liegend und mit einer Schlammkruste bedeckt, Umrisse von Menschen. Ein dritter Haufen lässt einen Tierkadaver erahnen. Eine andere Lösung hat Esteban nicht gefunden, weder für sich noch für seinen Vater noch für seinen Hund.

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