"Am Rand der Dächer":Träumen, ohne zu schlafen

Verfallenes Haus

Letzte Spuren des Umbruchs in Berlin-Mitte, 2016.

(Foto: Regina Schmeken)

Lorenz Just erzählt von der anarchischen Kindheit im Berlin der Nachwendezeit.

Von Christoph Schröder

Im Jahr 1993 erschien Wolfgang Hilbigs Roman "Ich", in dem die Hauptfigur M. wie ein lichtscheues Tier durch geheime Verbindungsgänge im Berliner Untergrund stromert und die Stadt und den Staat aus einer bislang unbekannten Perspektive betrachtet. Lorenz Just, 1983 in Halle an der Saale geboren und 1988 mit seinen Eltern nach Ost-Berlin gezogen, hat einen völlig anderen Zugriff auf die Stadt als Wolfgang Hilbig, und doch scheint Just sich in ein literarhistorisches Kontinuum eingeschrieben zu haben: Seine Protagonisten sind nicht, wie Hilbigs Hauptfigur, im Dienst der Stasi unterwegs. Die gibt es nicht mehr zu jenem Zeitpunkt, zu dem Justs Romanhandlung einsetzt. Als Spitzel betätigen sich aber auch der Ich-Erzähler Andrej und sein bester Freund Simon, wenn auch in anderer Mission und mit dem entlarvenden Blick der Heranwachsenden. Simon und Andrej betrachten die Stadt im Wesentlichen von oben, von den Dächern und Baugerüsten herab, registrieren die Veränderungen, genießen das Freiheitsgefühl einer kurzen Epoche ohne feste Strukturen.

"Am Rand der Dächer" weist erstaunliche zeitliche und geografische Überschneidungen mit Lutz Seilers Roman "Stern 111" auf, der im Frühjahr mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet wurde: Linienstraße, Oranienburger, Kleine Hamburger Straße - das sind die Koordinaten, zwischen denen Andrej und Simon, die zu Beginn um die acht Jahre alt, also in etwa im Alter des Autors selbst sein dürften, sich bewegen. Frappierenderweise erscheint Justs Erzähluniversum als eine Parallelwelt zu Seilers ambitionierter Künstlerwerdungsgeschichte. Beide Romane eint allerdings, dass sie ausgesprochen unterhaltsam und lesenswert sind. Das hat in "Am Rand der Dächer" vor allem damit zu tun, dass es keine Erwachsenenperspektive gibt und Just in seiner kalkuliert erratischen Plotführung kindlichen und später jugendlichen Entscheidungsmustern und Denkstrukturen folgt. Nicht alles wirkt logisch und wohl überlegt, aber abenteuerlich ist das Leben allemal.

Nach und nach wird die Anarchie in westliche Ordnung überführt

Erwachsenensorgen im Hinblick auf die soziale und ökonomische Orientierung in einem neu geschaffenen Land existieren nicht im Bewusstseinsraum von Justs Protagonisten. Der Ausgangszustand ist die Anarchie, die nach und nach in die westliche Ordnung überführt wird: Vom Abbruchbau zum Paradequartier urbaner Bürgerlichkeit. Berlin Mitte wird von Just als wildes Land inszeniert, mit brüchigen Plattenbauten auf der Linienstraße und besetzten Häusern voller kurioser Individualisten. "In der Deckung der Kindheit, im Schatten der Welt", wie es einmal heißt, erkunden Simon und Andrej, mal in Begleitung von Freunden, aber meistens zu zweit, die Transformationsprozesse der Wendezeit - und werden dabei zu Einbrechern. Nichts reizt sie mehr als die neu geschaffenen, seelenlosen Wohnungen in jenen Häusern, die hinter Baugerüsten und Planen verschwunden waren und danach wie von Zauberhand als Symbole der gewendeten Epoche zum Vorschein kommen.

Architektonisch gewitzte Innenhofkonstruktionen oder mit Panzerglas gesicherte Luxusappartements, beide von oben, von den Dächern herab ausgespäht, üben auf Andrej und Simon einen unwiderstehlichen Reiz aus. Sicher, Wertgegenstände nehmen sie auch mit, um sie zu verstecken, doch darum geht es den beiden Freunden nicht in erster Linie; ihr Motor ist eine Neugier auf die neuen Verhältnisse, die sich durchaus als eine exzentrische Variante der Identitätsbildung lesen lässt.

Bildungsversuche der klassischen Art prallen an Justs Protagonisten ab: Die Schule ruft bei ihnen bloßes Unverständnis hervor; Lehrer erscheinen als Gespenster der alten Zeit, jämmerlich verschanzt hinter ihren Schreibtischen. Andrejs Lehrjahren hat Just zum einen in Person seiner Mitschülerin Annika ein Sehnsuchtsziel vor Augen gesetzt. Vor allem aber arbeitet sich die jugendliche Projektionsmaschine an den Freiheitsversprechen des ehemaligen Klassenfeindes ab: Amerika wird, zum Entsetzen der Eltern, zu einem popkulturellen Leitbild, das mit der Realität kaum in Einklang zu bringen sein dürfte. Am Ende des Romans, es ist das Jahr 2000, sitzt Andrej im Flugzeug, um ein Austauschjahr in den USA zu verbringen. Die aufregende Epoche der Illusionen ist vorbei.

Schon in seinem Debüt "Der böse Mensch", einer 2017 erschienenen Sammlung von lose verklammerten Erzählungen, hat Lorenz Just sein großes Talent unter Beweis gestellt. "Am Rand der Dächer" ist ein zwar hin und wieder in seiner Handlungsführung etwas ausfransender Roman, der aber ohne Verklärung die Gestimmtheit einer Dekade im Zwischenraum zweier Staaten auf ungewöhnliche Weise und sprachlich originell einfängt. "Auf den Dächern konnte ich träumen, ohne zu schlafen", so sagt es Andrej einmal rückblickend. Es ist ein Gewinn, an diesen Träumen teilzuhaben.

Lorenz Just: Am Rand der Dächer. Roman. Dumont-Verlag, Köln 2020. 272 Seiten, 22 Euro.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: