Süddeutsche Zeitung

Alphonse Karr:Jedes Glück erregt ein wenig Hass

59 Episteln mit Titeln wie "Über einen Rosenstrauch", "Die Farben" oder "Nach dem Regen": Alphonse Karrs lange verschollener Briefroman "Reise um meinen Garten" in einer bibliophilen Ausgabe.

Von Burkhard Müller

Noch einmal drückt der Freund dem Freund die Hand, dann lässt der Postillon im Hof seine Peitsche wie Fanfarengeschmetter knallen, ein letztes Lebewohl ertönt, die Pferde galoppieren los, nur um die Straßenecke erst, aber von da an geht es weiter in die ganze Welt. Und der Zurückgebliebene fühlt sich benommen, verblüfft, traurig, verstimmt, ohne dass er genau wüsste, warum.

Der Zurückgebliebene, das ist Alphonse Karr bzw. jenes Ich, das an seine Stelle tritt, um nunmehr eine lange Reihe von Briefen an den Abwesenden zu richten, ohne wissen zu können, wo auf dem Erdball sie den Empfänger erreichen werden. John Baptiste Alphonse Karr, 1808 geboren, war im Frankreich des 19. Jahrhunderts ein berühmter Schriftsteller, Publizist und Satiriker. Nach dem Staatsstreich Louis Bonapartes 1851 zog er sich an die Côte d'Azur zurück, beschäftigte sich fortan mit Gartenbau und Blumenzucht, begann Schnittblumen zu versenden und wurde 81 Jahre alt.

Auch in Frankreich dürfte er heute weitgehend vergessen sein; in Deutschland kam sein Ruhm nie an. Umso verdienstvoller ist es, dass ihn jetzt die Andere Bibliothek entdeckt hat und die "Reise um meinen Garten" in einer schönen blütenreichen Ausgabe dem deutschen Publikum präsentiert.

Der Autor befreit sich, indem er sich den kleinen Dingen zuwendet

"Reise um meinen Garten", das zitiert natürlich die ältere "Reise um mein Zimmer" von Xavier de Maistre, ein Buch, das in den Monaten der Corona-Quarantäne wieder auf ein frisches Interesse gestoßen ist, schließlich gibt es ein lebhaftes Vorbild ab, wie man, ohne Trübsal zu blasen, es auch im Hausarrest einigermaßen gut aushalten kann. Der Offizier de Maistre musste, nach einem verbotenen Duell, nur ein paar Wochen in seinen vier Wänden bleiben; Karr hingegen, Zivilist durch und durch, liefert den Entwurf eines ganzen Lebens. Das briefschreibende Ich muss sich zunächst einmal Klarheit verschaffen, woher dieses Missgefühl bei der Abreise des Anderen stammt, und gelangt zum Ergebnis: "Jedes Glück erregt ein wenig Hass: Man wünscht sich nichts mehr, als sich einreden zu können, dass diejenigen, die es genießen, uns irgendein großes Unrecht antun; das würde uns erlauben, jenem niedrigen und beschämenden Gefühl, dessen wahrer Name Neid ist, einen etwas feineren Namen zu geben und es einfach Ressentiment, berechtigten Stolz, verwundete Würde zu nennen."

Einmal erkannt, sei diese Gefahr rasch gebannt gewesen, behauptet der Briefschreiber; aber er kommt immer wieder auf jene große Welt zurück, die er doch verschmäht. Was hoffe der Freund denn in seinen fernen Ländern zu sehen? Etwa Frauen mit Ringen in der Nase? Oh, da könne er doch ebenso gut daheim in Frankreich bleiben, wo die Frauen die Ringe in den Ohren tragen, wo sei der Unterschied? Kannibalen vielleicht? Er solle einmal zuschauen, was die Insekten in ihrer kleinen Welt einander antun, da käme der schlimmste Südsee-Insulaner nicht mit; und die bunte Pracht von Blumen und Käfern überträfen den Glanz der kostbarsten Edelsteine. Es lässt den Leser ahnen, dass dieses Glück in der Beschränkung wohl nicht ganz freiwillig angetreten wurde. Mit besonderem Groll begegnet Karr der Arroganz der Liebhaber, die nur einen ganz bestimmten Typ von Tulpe oder Nelke gelten lassen und den herrlichen Rest der Blütenfülle als bloße "Bouquets" verachten, sowie den Botanikern mit ihren aufgeblasenen Fremdwörtern. Dem setzt er die Unschuld der Natur im Sinne Rousseaus und das epikureische Ideal des Gartens entgegen.

Das Buch ist 400 Seiten lang, obwohl sehr wenig passiert

Natur und Garten, Rousseau und Epikur, das schließt einander ja eigentlich aus, denn der Garten ist eben nicht schlechthin Natur, sondern Natur, die gezwungen wurde. Aber Wert und Reiz dieser 59 Episteln mit Titeln wie "Über einen Rosenstrauch", "Die Farben" oder "Nach dem Regen" liegt darin, dass sie diesen Widerspruch durch den inständigen Blick der Liebe versöhnen, so wie auch der Verfasser selbst kraft seiner Wendung zu den kleinen Dingen aus dem ursprünglichen Zwang in eine freie Lebenswahl gefunden hat. Auch das im Winzigen dennoch Schreckliche fasziniert ihn, nicht nur als ästhetisches, sondern auch als moralisches Schauspiel wie im Theater, etwa wenn eine Goldwespe die Bruthöhle einer Erdbiene zu parasitieren versucht: "Jetzt ist sie am Rand des Loches ... sie zögert ... sie entschließt sich ... sie schlüpft hinein. Sie fesselt mich - sie ist so schön! Die andere fesselt mich auch - sie ist so fleißig! Da kommt sie durch die Lüfte zurück; man könnte sie für einen Krieger halten, der ziselierte Waffen und einen vergoldeten Panzer trägt; sie summt. Die Goldwespe hat dieses Summen gehört, das für sie der schreckliche Ruf der Kriegstrompete ist. Sie will fliehen, sie kommt heraus; aber die andere, mit Recht aufgebracht, stürzt sich auf sie und schlägt mit ihrem Kopf auf sie ein. Sie zerdrückt und zerreißt die schillernde Gaze ihrer Flügel und wirft sie auf den Sand, wo sie betäubt und leblos liegen bleibt."

Ist das pathetisch überzogen, ist es unsachlich? An der Genauigkeit der Beobachtung wird man jedenfalls nicht zweifeln können. So schreibt noch, um eine Generation jünger, der Insektenforscher Henri Fabre, Karrs Landsmann und Bruder im Geiste, dem dafür im Jahr 1914 der Literatur-Nobelpreis zugesprochen wird. Möglicherweise ist das Buch mit seinen über 400 Seiten um ein weniges zu lang geraten, bedenkt man, wie wenig darin eigentlich passiert. Und der Leser sollte einen Sinn für die heute etwas aus der Mode gekommene Empfindsamkeit mitbringen, eine Seelenhaltung, die sich mit einer hohen Anmut des Stils verbindet. Dann wird er belohnt mit wunderbaren Schilderungen herzklopfender erster Liebe und des unvergleichlichen Dufts von blühenden Linden.

Alphonse Karr: Reise um meinen Garten. Ein Roman in Briefen. Aus dem Französischen von Caroline Vollmann. Mit einem Vorwort von Eduard Bodi. Die Andere Bibliothek, Berlin 2020. 436 Seiten, 44 Euro.

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Quelle:
SZ vom 25.08.2020
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