"Alles steht Kopf" im Kino:Heul doch

INSIDE OUT; Film Alles steht Kopf

Die manischen Helden und Gefühlskontrolleure aus "Alles steht Kopf" von links nach rechts: Kummer, Wut, Angst, Ekel und Freude.

(Foto: Pixar)

Der wunderbare Animationsfilm "Alles steht Kopf" liefert knallbunte Psychoanalyse, wie sie Freud wohl sehr gefallen hätte.

Von David Steinitz

Über einen Film, der die wilden menschlichen Gefühle Freude, Kummer, Wut, Angst und Ekel zu seinen fünf bunten Hauptfiguren macht, muss man natürlich hochemotional schreiben.

Da wäre zunächst also die pure Freude, mit ihren fröhlichen Kulleraugen und der kessen Kurzhaarfrisur, die den Kritiker jubilieren lässt, an dieser Stelle diesen außergewöhnlichen Animationsfilm empfehlen zu dürfen. An ihr zerrt aber auch schon das feuerrote Wutmännchen mit seiner Autohändlerkrawatte, weil man natürlich gern noch ein bisschen mehr Platz für diese Filmkritik gehabt hätte. Dahinter bibbert schon die dürre Angst mit ihren schreckhaft hüpfenden Augenbrauen - was die Kollegen ob dieses egoistischen Wunsches jetzt wohl wieder denken werden?

Der Besuch des 15. Kinofilms aus dem Hause des Animationsstudios Pixar ist wahrlich eine folgenreiche Angelegenheit. "Alles steht kopf" spielt fast ausschließlich im Kopf eines elfjährigen Mädchens namens Riley. Dort steuern an einer Art Gefühlsmischpult fünf Cartoon-Versionen von menschlichen Emotionen das Innenleben und toben auch nach dem Film noch fröhlich weiter im Zuschauerkopf. So schaut es da drin also aus! Hätte der gute Dr. Freud, als er dereinst in seinem Studierzimmer in der Wiener Berggasse 19 niederschrieb, dass das Ich nicht Herr im eigenen Hause sei, diesen Film gesehen - er hätte sich garantiert vergnügt den weisen Bart gezwirbelt.

Die Krise des Individuums ist das große Überthema aller Pixarfilme

Was macht "Alles steht kopf" so besonders? Die reine Geschichte ist es nicht, da waren die Pixerianer schon einfallsreicher. Das Mädchen Riley zieht mit seinen Eltern aus einem beschaulichen Örtchen in Minnesota nach San Francisco um, außerdem klopft die Pubertät langsam an. Deshalb spielen die fünf Figuren im Gefühlshauptquartier komplett verrückt. Aber was die Regisseure Pete Docter und Ronaldo Del Carmen, die schon gemeinsam am Pixar-Hit "Oben" gearbeitet haben, aus dieser Grundprämisse machen, ist großes Kino und eine kluge Fortschreibung des traditionsreichen Trickfilm-Genres.

Die Krise des Individuums, das zu Beginn nie Herr im eigenen Hause und im eigenen Mikrokosmos sein darf, ist das große Überthema aller Pixarfilme. Von der kochenden Gourmet-Ratte Rémy in "Ratatouille" über den herzzerreißend einsamen Roboter "Wall-E" bis zur wildgelockten schottischen Kämpferin "Merida" erzählen diese Filme wilde Emanzipationsgeschichten der Selbstverwirklichung. Jene Heldenreisen also, aus denen alle großen Kinoträume gewoben sind. Welche Wirkmechanismen dabei am Werk sein könnten, das erforscht "Alles steht kopf", der im Original noch treffender "Inside Out" heißt, nicht mehr von außen, sondern von innen.

In den Gründerjahren des Studios mussten die Animationskünstler ihre Meisterschaft vor allem dadurch beweisen, dass sie ihren Computern Kunststücke der Tricktechnik entlocken konnten, die sonst noch keiner Hollywoodschmiede gelungen waren. Also die wogende Zottelpracht der "Monster AG"-Jungs oder die glitzernden Meereswellen in "Findet Nemo". Diese Grenzen sind mittlerweile nahezu gänzlich ausgelotet. Weshalb sich Docter und Del Carmen formal für einen eher einfachen Retrolook entschieden haben. Inhaltlich haben sie sich, quasi als neue Frontier-Herausforderung, die Erkundung der schwierigen Frage "Was denkst du gerade?" vorgenommen.

Der Film verabschiedet sich vom alten Fröhlichkeitszwang, der so typisch für Disney war

Das wollen nämlich Rileys Eltern permanent wissen, die besorgt bemerken, dass es in ihrer Tochter heftig rumort. Im Kopf des Mädchens hatte bislang die Freude eine Art Chefrolle. Sie sorgte für konstante Fröhlichkeit und ließ dem Kummer-Kollegium kaum Raum zur Entfaltung. Ihre Übermacht zeigt sich typisch Pixar-bildlich auch in den kleinen Erinnerungskugeln, die die fünf Emotionen zu verwahren haben. Diese nehmen immer genau jene Gefühlsfarbe an, die Riley mit ihren Erinnerungen und Erfahrungen verbindet.

Kürzlich schimmerten diese Gedankenbälle fast alle noch sonnengelb vor Freude. Aber seit dem Umzug in die Großstadt, weg von den alten Freunden und der vertrauten Umgebung, tatscht die blaue Kummer mit ihren herunterhängenden Mundwinkeln und der großen Nerdbrille immer mehr Erinnerungen an. Weshalb Riley in einen frühadoleszenten Dauerblues verfällt.

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Freude und Kummer stehen vor Rileys Erinnerungskugeln. Seit sie umgezogen ist, mehren sich die blauen Kummer-Erinnerungen.

(Foto: Disney/Pixar)

Das große Duell dieses Films findet also zwischen Freude und Kummer statt, die um die Vorherrschaft in Rileys Gemütshaushalt ringen. Ungewollt müssen sie eine große Reise durch die gigantischen Erinnerungswelten in ihrem Kopf antreten - während im Kontrollraum die überforderten Sidekick-Gefühle Angst, Wut und Ekel ihr Unwesen treiben.

Eine Anspielung auf das Kreativpaar Pixar/Disney

Das ungleiche Abenteuerpaar Freude und Kummer ist natürlich auch eine Anspielung auf das ehemals ebenfalls recht ungleiche Kreativpaar Pixar/Disney, das seit einigen Jahren zusammengehört, nachdem die mächtige Disney-Company die Tricktüftler-Überflieger eingekauft hat.

Freude ist eine dauerlächelnde Inkarnation der alten Trickfilmtraditionen des Pixar-Mutterstudios, wo Schicksalsschläge zwar nicht ausgespart, letztlich aber doch stoisch hinweggelächelt wurden. Hier macht diese Freude einen Wandel vom Fröhlichkeitsimperativ der frühen Trickära zu einem wesentlich realistischer temperierten Gemüt durch.

"Alles steht kopf" predigt vehement die dringende Notwendigkeit von Melancholie und anderen Anti-Happy-Zuständen fürs menschliche Dasein, was in der amerikanischen Unterhaltungsindustrie immer noch nicht ganz selbstverständlich ist. Und Melancholie können Freude und Kummer natürlich nur produzieren, indem sie sich nicht mehr als Feinde, sondern als Verbündete begreifen. Die Kopfreise, auf der sie das lernen, gestaltet sich ein wenig wie Alices Trip durch den Hasenbau ins Wunderland - irre Welten tun sich auf.

Welche Freigeist-Beschleuniger auch immer in der Pixar-Kantine beim Lunch an die Mannschaft verteilt werden - sie tun ihr Werk bestens. Auch wenn dies kein Film ist, den man ernsthaft mit Spoilern verderben könnte, darf man trotzdem nicht zu viel über diese Reise verraten, weil der aufregende Grundgedanke ja darin besteht, ein fremdes Gehirn unvoreingenommen zu erkunden. Schritt für Schritt offenbaren sich in diesem Kosmos das Schöne genauso wie die dunkelsten Untiefen der Erinnerung.

Inside Out, USA 2015 - Regie: Pete Docter, Ronaldo Del Carmen. Buch: Meg LeFauve, Josh Cooley, Pete Docter. Schnitt: Kevin Nolting. Art Direction: Bert Berry. Disney, 94 Minuten.

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