"Alle Zeit der Welt" von E.L. Doctorow:Die inneren Organe von Suburbia

"Alle Zeit der Welt" von E.L. Doctorow: Bekannt geworden ist Doctorow mtit Gesellschaftsromen. Seine Erzählungen widmen sich dem Eheleben in den amerikanischen Suburbs.

Bekannt geworden ist Doctorow mtit Gesellschaftsromen. Seine Erzählungen widmen sich dem Eheleben in den amerikanischen Suburbs.

(Foto: AFP)

Der Erzählband "Alle Zeit der Welt" von E. L. Doctorow verknappt große Gesellschaftsromane zu schlanken Storys. Verlorengegangen ist dabei allerdings nichts. Die präzisen Erzählungen sezieren das Eheleben in den USA, von Manhattan bis in die Provinz.

Von Lothar Müller

In einem seiner Essays berichtet der amerikanische Evolutionsbiologe Stephen Jay Gould von einer Unterhaltung zweier Mädchen, die er auf einem Spielplatz in New York aufgeschnappt hatte. Sie diskutierten über die Größe von Hunden. Das eine Mädchen fragte: "Kann ein Hund so groß sein wie ein Elefant?" Das andere Mädchen überlegte ein wenig und antwortete: "Nein, wenn er so groß wie ein Elefant wäre, würde er wie ein Elefant aussehen." Der Kommentar des Evolutionsbiologen: "Sie hatte recht."

Goulds Essay handelt vom Zusammenhang von Größe und Gestalt, Körpervolumen und Oberfläche in der Evolution von Organismen. "Einige kleinere Tiere haben nie innere Organe entwickelt", schrieb er und zeigte, warum manche kleine Tiere gezwungen sind, klein zu bleiben und andere beim Größerwerden gezwungen sind, ihre Gestalt zu ändern: "kein großes Tier hat eine durchhängende Mitte wie ein Dackel".

Das Verhältnis von Roman und Erzählung

Es ist ein reizvolles Gedankenspiel, die Beobachtungen Goulds auf die Evolution der literarischen Formen zu übertragen. Es wird dann schlagartig klar, dass die berühmte Definition des Romans, die der englische Schriftsteller E. M. Forster in seinen "Aspects of the Novel" gab, keineswegs nur ein äußeres Merkmal in den Vordergrund rückte: "jedes Stück fiktiver Prosa mit mehr als 50 000 Wörtern".

Die inneren Organe, die der Roman ausgebildet hat, um Weltausschnitte in sich aufzunehmen und darzustellen, folgen natürlich, anders als die Organismen Goulds, literarischen Gesetzen. So kann zum Beispiel ein großer Roman eine durchhängende Mitte haben, während die Erzählung als vergleichsweise kleineres Tier damit ihre Schwierigkeiten hat. Und zwar umso mehr Schwierigkeiten, je weniger Wörter sie enthält. Außerdem verdankt sie ihre Vorzüge oft dem Verzicht auf die Herausbildung innerer Organe und Verschlingungen, die für den Roman unverzichtbar sind.

Der amerikanische Schriftsteller E. L. Doctorow, 1931 in New York geboren und in der Bronx aufgewachsen, ist vor allem durch seine Romane berühmt geworden, in denen er mit sicherem Gespür für exemplarische Stoffe ein Genre des 19. Jahrhunderts modernisierte: den historischen Gesellschaftsroman. In "Ragtime" (1975) porträtierte er die amerikanische Gesellschaft des frühen zwanzigsten Jahrhunderts als Einwanderergesellschaft, in "World's Fair" (1985) aus der Perspektive eines Heranwachsenden die Große Depression bis zur New Yorker Weltausstellung 1939, über die schon der Schatten des Weltkriegs fällt.

Eine Sammlung der Relikte des 20. Jahrhunderts

Seine jüngsten Romane demonstrierten virtuos die Spannbreite seiner Rückgriffe auf historische Stoffe. "The March" (2005) (dt., "Der Marsch") zeigte, wie der amerikanische Bürgerkrieg die gesamte Zivilgesellschaft erfasste, "Homer & Langley" (2009) verwandelte einen Zeitungsstoff aus der Rubrik der "faits divers" in eine Studie über den Rückzug eines Brüderpaars in ihre Wohnung, wo sie als frühe Messies die Relikte des amerikanischen 20. Jahrhunderts zu einer monströsen Sammlung auftürmen.

Seit den Achtzigerjahren hat Doctorow auch immer wieder Erzählungen geschrieben und 2011 daraus eine Auswahl zusammengestellt, die nun auch auf Deutsch erschienen ist. Im Vorwort macht sich Doctorow Gedanken über das Verhältnis von Roman und Erzählung. "Jede fiktionale Form bringt ihre eigene Erfüllung mit sich - bei der Erzählung ist es das Gewicht der Sätze, da es nicht viele davon gibt." Das führt in die Nähe von Goulds Frage nach dem Verhältnis von Größe und Gestalt. Aber wann hat eine Erzählung "nicht viele" Sätze?

Gleich die erste Geschichte regt dazu an, dieser Frage nachzugehen. Sie gehört zu den sechs hier erstmals auf Deutsch publizierten Erzählungen, die Gertraude Krueger ebenso stilsicher übertragen hat wie die 2009 verstorbene Angela Praesent die älteren Geschichten, die bereits in den Bänden "Der Schriftsteller in der Familie" (1995) und "Das Leben der Dichter" (2006) enthalten waren. Diese erste Geschichte heißt "Wakefield", und das lässt aufhorchen, denn es ist der Titel einer bekannten Erzählung von Nathaniel Hawthorne (1805-1864), die es auf Deutsch in einer sehr schönen Übersetzung von Joachim Kalka bei der Friedenauer Presse gibt.

"Nennen wir ihn Wakefield"

Hawthornes Erzählung macht nicht viele Worte. Auf nur knapp zehn Druckseiten zeichnet sie die Umrisse einer Figur, die kein Leser so leicht vergisst: Im Dämmerlicht eines Oktoberabends bricht der Held, der in London lebt, zu einer Reise auf, verabschiedet sich für einige Tage von seiner Frau - und kehrt erst nach zwanzig Jahren wieder zurück. In der Zwischenzeit hat er, die Anonymität der Großstadt ausnutzend, ein paar Straßen weiter in einer im voraus angemieteten Wohnung gelebt.

Hawthorne behauptet, den Umriss dieses Mannes in einer alten Zeitschrift oder Zeitung gelesen zu haben, und nun auf wenigen Seiten diesen Umriss mit ein wenig Leben zu füllen, vom Namen - "nennen wir ihn Wakefield" - bis zu den kleinen Tricks, mit denen der "listenreiche Dummkopf" sich unerkannt in der Nähe des Lebens einnistet, das er verlassen hat. Doctorow holt Wakefield in die amerikanische Gegenwart. Er macht ihn zu einem erfolgreichen Anwalt, der nach Manhattan pendelt und eines Tages, als ein Stromausfall über seine Vorstadt einen unnatürlich schwarzen Himmel legt, eine Kammer über der Garage seiner viktorianischen Villa bezieht und mit den Waschbären, die er früher verjagt hat, um die Essensreste in den Abfalltonen rivalisiert.

Von der Großstadt nach Suburbia

Statt Hawthornes vertrackt doppelbödiger Erzählerstimme berichtet Doctorows Wakefield selber über sein Verschwinden und seine unvermutete Rückkehr, die wichtigste Veränderung aber betrifft das Verhältnis zwischen der Zahl der Wörter und der Zahl der Jahre, über die sich die Geschichte erstreckt. Hatte Hawthorne den riesigen Zeitraum von zwanzig Jahren Abwesenheit auf zehn Seiten untergebracht, so berichtet Doctorows Wakefield über den Zeitraum etwa eines Jahres - von Frühjahr bis Frühjahr - auf etwa 45 Seiten.

Was ist hinzugekommen, außer dass Wakefield beim Verschwinden das technologische Niveau der Gegenwart zu respektieren hat, also seine Kreditkarten und sein Handy stilllegt? Eine Vorgeschichte, in der Wakefield seine Frau dem besten Freund ausgespannt hat, und ein Seitenstrang, in dem die geistig behinderten Kinder, aus dem Nachbarhaus des eines Psychiaters, Wakefields Schutzgeister werden.

So legt sich die Geschichte von Wakefield innere Organe zu, und die Form, auf die hin sie ihre Gestalt verändert, ist der Roman. Dem hatte Hawthorne einen Riegel vorgeschoben: "Hätte ich doch einen starken Band zu schreiben und nicht nur einen Artikel von einem Dutzend Seiten! Dann könnte ich darlegen, wie ein Einfluß jenseits unserer Kontrolle seine starke Hand auf alles legt, was wir tun, und das, was aus ihm folgt, zu einem ehernen Gewebe der Notwendigkeit flicht."

Doctorows Wakefield gerät, je weiter die Erzählung voranschreitet, in ein dichtes Gewebe möglicher Motive seines Handelns. Als ständiger Beobachter seiner Frau aus dem Versteck heraus kehrt er zurück, kaum hat er den Rivalen von einst in seinem Haus auftauchen sehen. Wir Leser gewinnen in diesem Update des alten Modells sehr präzise Einblicke in das Eheleben in Suburbia - aber auf Kosten der Rätselhaftigkeit, Leere und des Unheimlichen, die Hawthornes Wakefield an die Seite der Figuren Edgar Allan Poes rücken.

Green Card-Geschichte und Formexperiment

Es gibt auch den gegenteiligen Effekt in diesem lesenswerten Buch, zu dessen Schauplätzen neben New York und seinen Suburbs die Provinz in Arizona ebenso gehört wie die Ebenen von Illinois: die Befreiung einer Erzählung aus dem Roman, der für sie eine Nummer zu groß war. "Raub" hat den gleichen Stoff wie Doctorows Roman "City of God": einem seltsamen Großstadtheiligen, Pfarrer im südlichen Manhattan, kommt das Kreuz seiner Kirche - und manches andere - abhanden, und er findet das Kreuz bei einem Rabbi wieder. Die Suada des mit seinem Gott nicht sehr zufriedenen Pfarrers, auf den sich die Erzählung beschränkt, ist dem weitschweifigen Thesenroman, der daraus wurde, deutlich überlegen.

Doctorow beherrscht den Ton der Verknappung, wie ein Satz aus der Geschichte "Jolene: Ein Leben" über den unglücklichen Mickey Holler zeigt: "Sein richtiger Vater saß lebenslänglich in der Strafanstalt, aus dem gleichen Grund, aus dem seine Mutter auf dem Friedhof hinter der First Baptist Church lag." Schlank und einsträngig erzählt, ist "Assimilierung" eine mustergültige Green Card-Geschichte, und in "Edgemond Drive" - auch hier ist der Schauplatz Suburbia - gelingt das Formexperiment, die Erzählung von der Rückkehr und vom Sterben eines ungebetenen Gastes in das Haus, in dem er einmal wohnte, ganz in einen Dialog der aktuellen Bewohner zu verwandeln.

Richtig missglückt ist allenfalls "Walter John Harmon", die mit allzu berechenbarer Satire ausgeleuchtete Innenansicht eines Mannes, der sich von einem Sektenführer hinters Licht führen lässt. Dafür entschädigt die schöne Moritat "Ein Haus in der Ebene" über eine schöne Witwe, die Männer beiseite schafft - hier wie in der bitteren Lebensgeschichte Jolenes schimmern durch die Episodenform die Strophen einer Ballade durch und tragen dazu bei, dass die inneren Organe der Erzählung nicht in Richtung Roman wuchern.

E. L. Doctorow: Alle Zeit der Welt. Storys. Aus dem Englischen von Gertraude Krueger und Angela Praesent. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2013. 350 Seiten, 17,99 Euro.

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