Ihren allerersten Film drehte sie 1896, ein Jahr nach der Erfindung des Kinematographen. "La fée aux choux" heißt das knapp einminütige Werk, in dem sie als "Kohlfee" kleine Babys aus riesigen Kohlköpfen hervorzieht. Als würde sie hier schon das schöpferische Potenzial, die ganzen Ideen und Wunder vorwegnehmen, die sie in Zukunft den Apparaten und Attrappen der neu geschaffenen Kunstform entlocken und einem stetig wachsenden Publikum vorführen wird. Als Regisseurin, Drehbuchautorin, Produzentin und Studiochefin, in unzähligen Filmen. Ihr Name: Alice Guy-Blaché, die erste Frau hinter der Kamera. Von der bislang die wenigsten gehört haben dürften.
Daran sollte sich nun etwas ändern, dank des Porträts, das die amerikanische Filmemacherin Pamela B. Green ihr gewidmet hat. "Be Natural - Sei du selbst: Die Filmpionierin Alice Guy-Blaché" lief schon 2018 beim Festival von Cannes und dokumentiert Guy-Blachés Leben und Schaffen. Dass Guy-Blachés Bedeutung so lange Zeit ignoriert wurde, hängt vor allem damit zusammen, dass die Filmgeschichte nicht nur von Männern dominiert, sondern auch von ihnen geschrieben wurde. Frauen waren jedoch von Anfang an dabei, in zentralen Positionen.
Sie geriet in Vergessenheit, weil nicht nur Filme, sondern auch Filmgeschichte vor allem von Männern geschrieben wird
Sie wurde 1873 in der Nähe von Paris geboren und begann ihre Karriere als Assistentin von Léon Gaumont, damals noch Prokurist einer bald darauf pleite gehenden Photographie-Firma. Die beiden wohnten einer der ersten Filmvorführungen der Brüder Lumière bei. Daraufhin überredete sie ihren Chef, das neue Medium fürs Geschichtenerzählen zu nutzen - wie in dem Film mit der Kohlfee - und legte damit den Grundstein für das spätere, noch heute existierende Gaumont-Filmimperium.
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Schnell wurde Guy-Blaché zur Produktionsleiterin der Gaumont, bevor sie mit ihrem Gatten, einem Kameramann, in die USA zog und dort ihr eigenes Studio gründete, die "Solax". Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war noch die Ostküste, nicht Hollywood das Zentrum der amerikanischen Filmindustrie. Guy schrieb, produzierte und inszenierte über tausend Filme, vornehmlich Komödien, Musicals und Western - die meisten sind verschollen.
In ihren Filmen thematisierte sie Antisemitismus, Immigration, die Situation der Arbeiter, Kindesmisshandlung - und immer wieder die Rolle der Frau. Irgendwann mehrten sich wirtschaftliche Probleme. Ihr Mann verließ sie und ging nach Hollywood, sie zog mit den Kindern zurück nach Frankreich, fand aber keine Anstellung mehr. Auch der gealterte und nicht zuletzt dank ihr reich gewordene Léon Gaumont ließ sie fallen. In den damaligen Annalen der Gaumont taucht sie nicht einmal auf. Filmhistoriker wie Georges Sadoul und Jean Mitry schreiben viele ihrer Werke anderen (männlichen) Regisseuren zu.
Den Rest ihres Lebens kämpfte Guy, die 1968 starb, für die historische Anerkennung ihrer Leistungen. Knapp fünfzig Jahre nach ihrem Tod führt die Dokumentarfilmerin Green diesen Kampf fort. Wie eine Advokatin vor dem Tribunal der Film- und Mediengeschichte setzt sie eine riesige Maschine in Gang, die neue Beweise für die Bedeutung ihrer Mandantin vorlegt. Prominente Zeugen werden aufgerufen: Peter Bogdanovich, Julie Delpy und Ava DuVernay kommentieren vor der Kamera, aus dem Off erzählt Jodie Foster. Währenddessen rauschen die Bilder und Informationen an einem vorbei, als wollte Green alle Archive auf einmal öffnen und ihre Inhalte den Zuschauern entgegenschleudern. Alte Interviews mit der Künstlerin und ihrer Tochter, Ausschnitte aus ihren Filmen und andere Aufnahmen aus der Vergangenheit vermischen sich mit zahlreichen digitalen Animationen, die filmgeschichtliche Zusammenhänge und sämtliche Rechercheschritte des Filmteams illustrieren.
Das wirkt oft etwas effektüberladen, als hätte Marvel versehentlich eine Arte-Doku produziert. Andererseits scheint Green auch gar nicht davon auszugehen, dass man sich ihre Dokumentation noch zwangsläufig "am Stück", also im Kino, anschaut. Die Überladenheit des Films macht ihn eher zum Archiv, das man zum maximalen Erkenntnisgewinn am besten auf dem Computer studiert, wo man auf der Timeline des Films und damit in der Biografie vor- und zurückscrollen kann. Lust darauf, Alice Guy-Blaché wiederzuentdecken, macht Greens Beitrag allemal.
Be Natural - The Untold Story of Alice Guy-Blanché, USA 2019. - Regie und Buch: Pamela B. Green, Joan Simon. Filmperlen, 103 Minuten. Im Kino.