Netzkolumne:Bot ist Gott

Was früher übernatürliche Mächte waren, sind heute die Algorithmen. Sie entscheiden über unser Wohl und Weh, über Kreditantrag und neuen Job.

Von Michael Moorstedt

Es kommt ja alles immer wieder. Vor einem knappen Jahrhundert diagnostizierte Max Weber die Entzauberung der Welt. Dank Aufklärung und Industrialisierung, schrieb er, gebe es keine geheimnisvollen Mächte mehr, die das Leben der Menschen beherrschten. Heutzutage ist es paradoxerweise ein Zuviel an Technik, das zu einer Gegenbewegung führt. Digitale Technologien beeinflussen uns unentwegt. Der Mensch bewegt sich in einem Feld aus für ihn unergründlichen Kräften, über die er wenig bis gar keine Kontrolle hat.

Nur werden wir nicht mehr von Geistern heimgesucht, sondern von Bots. Mal schicken sie Fluch, mal Segen. Der Kreditantrag wird abgelehnt, bei der Bewerbung um einen neuen Job wird man überraschend ausgewählt. Warum? Der Betroffene weiß es nicht. Studien zufolge können nur knapp die Hälfte der Befragten überhaupt etwas mit dem Begriff Algorithmus anfangen, noch geringer ist dann wohl die Zahl derjenigen, die eine grobe Idee haben, wie ein Algorithmus funktioniert.

Ein Handy ist ein Fetisch, ein "aufgeladenes Objekt"

Die Tech-Magie kann ebenso wohlwollend wie böswillig sein. Wir werden zum Spielball von Mächten, über die wir immer seltener Kontrolle haben und die sich unserem Verständnis entziehen. Nur Experten können die Vorgänge erklären, sie vielleicht sogar beeinflussen. Sie übernehmen die Rolle der Seher und Auguren von einst.

Die Menschen reagieren darauf so, wie die, die früher an das Übernatürliche glaubten, schließlich gab es in der Natur ja genügend unerklärliche Vorgänge. Auf Tiktok etwa, der App, auf der die Inhalte ausschließlich durch einen Algorithmus sortiert werden, beraten sich die Nutzer gegenseitig, durch welche kleinen Änderungen in den Videos oder den Titeln sie endlich viral gehen können. Hier noch ein Punkt, da ein Komma - so vielleicht? Die richtige Komposition von Hashtags und Suchbegriffen ersetzt die Beschwörungsformel. Ob das tatsächlich etwas bringt, ist vollkommen unklar. Viel mehr als anekdotische Evidenz haben die Nutzer nicht.

Das quasi-magische Ritual als wiederentdeckte Kulturpraktik gilt im Übrigen auch für die Hardware. Für die meisten Menschen ist ihr Smartphone ohnehin nicht nur ein schnödes Werkzeug aus Metall und Silizium, sondern eher ein Fetisch, ein "aufgeladenes Objekt", wie es der Philosoph Charles Taylor in seinem Buch "Ein säkulares Zeitalter" nennt. Man klopft nicht mehr auf Holz, sondern auf hochauflösende Displays, um die Dinge zum Funktionieren zu bringen. Man pustet in die Öffnungsschlitze der Geräte, obwohl man weiß, dass das keinen praktischen Nutzen hat.

Als "algorithmischen Tratsch" bezeichnet die englische Kulturwissenschaftlerin Sophie Bishop diese Praxis. Genau wie man sich früher am heimischen Herdfeuer Sagen und Märchen erzählt hat, um unerklärliche Phänomene zu deuten, gibt es auch heutzutage wieder Gerüchte und Legenden, die untereinander ausgetauscht werden und die den undurchsichtigen Vorgängen Bedeutung und Zweck und den Menschen ein gewisses Maß an Handlungsfähigkeit verleihen sollen.

Der Fokus der Beschwörungen hat sich freilich verschoben. Es geht nicht mehr um Glück bei der Jagd, um gutes Wetter oder darum, die Ahnen gnädig zu stimmen. Sondern darum, in der vernetzten Welt sichtbar zu sein, die eigenen Inhalte ganz oben zu platzieren. Früher wollte der Mensch die Götter auf seine Existenz aufmerksam machen. Heute nur noch die Computerprogramme.

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