Pianistin Alexandra Dovgan:Wunderkind

Pianistin Alexandra Dovgan: Das Erstaunliche an Alexandra Dovgan ist nicht ihre pianistische Fingerfertigkeit, sondern die Tatsache, dass sie auch etwas zu erzählen hat.

Das Erstaunliche an Alexandra Dovgan ist nicht ihre pianistische Fingerfertigkeit, sondern die Tatsache, dass sie auch etwas zu erzählen hat.

(Foto: Oscar Tursunov)

Mit fünf Jahren bewarb sich Alexandra Dovgan zum Klavierstudium. Mit 14 Jahren beginnt sie jetzt ihre Weltkarriere.

Von Helmut Mauró

Seit ihrem vierten Lebensjahr spielt sie Klavier. Etwas mehr als andere Kinder, etwas intensiver, genauer, ausgefeilter. Sie ist talentierter als andere, das ist klar. Die Pianistin Alexandra Dovgan ist inzwischen 14 Jahre alt und balanciert auf dem Grat zwischen Wunderkind und Star-Pianistin. Sie wurde in eine Moskauer Musikerfamilie geboren und im Alter von fünf Jahren war klar: Ihr Talent ist außerordentlich. Man brachte sie zur Zentralen Musikschule in Moskau, die erfolgreichste musikalische Talentschmiede, die man sich denken kann. Die meisten Bewerber werden abgelehnt, die fünfjährige Alexandra Dovgan wurde angenommen. Und nun steht sie, davon zeugte das aktuelle Konzert im Münchner Prinzregententheater, am Beginn einer Weltkarriere.

Schon nach wenigen Takten war klar: Der Grat zwischen Wunderkind und Künstlerin ist etwas breiter als gedacht. Sie ist beides. Gerade das macht den künstlerischen Charme dieser Musikerin aus, die entschlossen, aber keineswegs nassforsch die Bühne betritt, sich kurz verbeugt und gleich loslegt mit Ludwig van Beethovens Sturmsonate. Die heißt nicht so, weil sie stürmischer als andere Beethoven-Sonaten wäre, sondern weil Beethovens Sekretär Anton Schindler kolportierte, der Komponist habe dabei an Shakespeares Zauber-Geister-Drama "Der Sturm" gedacht.

Dovgan denkt an Melodien und Akkorde, fühlt Zusammenhänge, dramatische Höhepunkte, und ihre Finger denken immer mit und sprechen zum Publikum. Meistens sehr klar und direkt, manchmal lyrisch in anderen Welten schwebend. Immer dann, wenn sie sich freispielt und zu vergessen scheint, was sie sich im Lauf der Jahre an Technik antrainiert hat, ist sie natürlich wunderbar. Und nur dann, wenn sie sich zu sehr darauf konzentriert, jedes Detail genau zu formen und für sich genommen schon als Gesamtausdruck zu begreifen, wie etwa im ersten Drittel des zweiten Satzes, diesem herrlichen B-Dur-Adagio, dann vergisst sie auch mal das strenge Grundmetrum zugunsten einer perfekt gestalteten kleinen Verzierung. Aber auf einmal fließt alles in breitem Strom dahin, wird melodiös und hochdramatisch - ganz Beethoven. Und auch, das muss man sagen, ganz Dovgan.

Die musikalische Freiheit führt nicht in die Ferne, sondern schnurstracks zu sich selbst, ins offene Innere

Denn hier öffnet sie sich ganz und zeigt eine so unwiderstehlich ehrliche Musikalität in der Begegnung mit dem klassisch-romantischen Genie, wie man sie nur sehr selten hört. Es ist nichts Gekünsteltes in ihrem Spiel, nichts Übertriebenes oder gar Didaktisches. Das musikalische Ereignis scheint aus sich selbst heraus zu entstehen und nicht gespielt zu werden. Das ist in beneidenswerter Weise naiv, das ist manchmal aber auch noch unausgereift. Wobei man im Moment gar nicht so recht weiß, ob nicht gerade dieser unfertige Zustand den romantischen Aspekt Beethovens besser trifft als viele ausgereifte Versionen oder Interpretationen seiner Musik. Gleichwohl, es fehlt ein wenig der Zug, die dramatische Anspannung, die lebendige Spannung im Langsamen, Hingezogenen, Verzögerten. Vielleicht ist das dann doch eine Sache des Erwachsenseins.

Dafür bringt Dovgan diese niederschmetternde melodische Aufrichtigkeit, die so klar ist und sich so wahr anfühlt, wie das nur ein zutiefst subjektives Spiel hervorbringen kann, das gleichzeitig von sich selbst abstrahiert. Das ist der Zauber, dass der ausführende Künstler gleichermaßen bei sich selber ist und beim Werk. Die musikalische Freiheit führt nicht in die Ferne, sondern schnurstracks zu sich selbst, ins offene Innere. Beethoven ist hier nicht mehr der monströse Wüterich -der er wohl auch nicht war, sondern erst in den letzten zweihundert Jahren wurde -, sondern der vor sich hin grummelnde Onkel, der sich gleich wieder liebevoll und ein bisschen melancholisch zuwendet und sich dabei in fernen Visionen verliert.

Ein Gemütszustand, den Robert Schumann konkret auskomponiert hat, auch in seinem "Faschingsschwank aus Wien", den Alexandra Dovgan ein bisschen hudelig angeht, aber sogleich wieder ihr Gespür für melodische Gewichtung offenbart. Nun kommt auch das Erzählerische hinzu, die Parlando-Gesten, die den zweiten Teil des Abends bestimmen werden, in dem sie alle vier Balladen von Frédéric Chopin vorführt. Und was bei Chopin manchmal wie hinter einem milchigen Gaze-Vorhang erscheint, wirkt in Robert Schumanns Klangsprache so plastisch und kraftstrotzend, dass es schon fast übergriffig erscheint. Alexandra Dovgan entgeht dieser Gefahr dadurch, dass sie außerordentlich präzise zu Werke geht. Ihre Technik ist stupend, was bei Pianisten immer eine große Freude ist.

Chopins g-Moll-Ballade entwickelt sie auf diese Weise sehr persönlich, mehr noch als Beethovens Sturm-Sonate

Nicht, weil man sich dabei an zirzensischer Akrobatik ergötzt, sondern weil man sich ganz auf die Musik konzentrieren kann, ohne mitfiebern zu müssen, ob alle vorgesehenen Töne auch sauber kommen werden. Das Erstaunliche ist aber nicht ihre Fingerfertigkeit, sondern die Tatsache, dass sie in diesen Parlando-Stücken auch etwas zu erzählen hat. Dass sie nicht in leeren Formen brilliert, sondern konkrete Stimmungen vermittelt und kleine Psychodramen, Verzweiflungen und Freuden. Chopins g-Moll-Ballade entwickelt sie auf diese Weise sehr persönlich, mehr noch als Beethovens Sturm-Sonate. Auch eigenwillig, natürlich, und auch hier vermisst man mitunter dramatische Bögen, aber sie spielt immer so, dass man spürt: Sie steht dafür ein, so ist sie in diesem Moment, da ist nichts falsch. Und darum geht es doch. Man will ja nicht nur den Komponisten hören, sondern auch den Künstler des Augenblicks, den Ausführenden, die Pianistin.

Dabei kommt es vielleicht weniger oft als gedacht darauf an, dass sich beide einig sind. In ein paar Jahren wird Alexandra Dovgan diese Balladen wahrscheinlich ganz anders spielen. Da wird sie dem lauernden Beginn der f-Moll-Ballade womöglich exzentrische Ausbrüche folgen lassen und sich ein bisschen in Rage spielen, wird Hochspannung inszenieren, aus der heraus dann das souverän Befreiende entsteht, das Chopin in seinen Balladen so hinreißend komponiert hat. Für den Moment aber ist Dovgans Erzählung von musikalischer Wahrheit und Größe eine andere, nicht weniger faszinierende. Und vielleicht bekommt man die auch nur von einer Vierzehnjährigen zu hören, die sich vorübergehend mit den Eltern und dem kleinen Bruder von Russland nach Spanien aufgemacht hat, um von dort aus die Welt zu erobern.

Die gleichwohl wieder zurück will nach Moskau zu ihrer großartigen Lehrerin Mira Marchenko und vielleicht und hoffentlich verschont bleibt von den kulturpolitischen Folgen des Ukraine-Krieges. Denn sie steht aktiv für eine andere Welt, die nicht auf Gewalt setzt, sondern auf ein Bewusstsein, das sich an solch einem Klavierabend bilden und erweitern kann. Dazu trägt auch die besondere Fähigkeit dieser Pianistin bei, reine Spieltechnik und musikalische Poesie kongenial zu verbinden.

Das zeigt sich selbst in der Zusammenstellung der Zugaben für diesen Abend: Rachmaninoffs gis-Moll-Prélude op.32, 12; Alexander Silotis Bearbeitung von Bachs b-Moll-Präludium BWV 855a; Rachmaninoffs D-Dur-Präludium op.23,4. Da geht das Spielerische Hand in Hand mit dem Gedanken- und Gefühlsspiel, das ebenso fröhlich wie zutiefst ernst ist. Und wenn man in das Gesicht der jungen Pianistin schaut, sieht man genau das: die Fröhlichkeit, den Ernst, die waghalsige Zuversicht.

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