Neue Bücher von Alexander Kluge:Leicht entzündlich

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Alexander Kluge, Helge Schneider, Filmstill aus "Pandemisches Geflüster". (Foto: Kairos Film)

"Lesen und schreiben heißt für mich sammeln": In zwei neuen Büchern kultiviert Alexander Kluge das Prinzip des vertikalen Erzählens.

Von Lothar Müller

Im Jahr 1956, da ist er 24 Jahre alt, arbeitet Alexander Kluge im tagsüber leeren Sitzungsraum des Studentenhauses der Frankfurter Universität an seiner Dissertation. Sie handelt von einem "Aufbruch der Intelligenz". Auf ovalen Glastischen liegen Quellen und Abhandlungen zur Geschichte und gegenwärtigen Rechtsform der Universitätsselbstverwaltung. Das Mobiliar ist unbequem, das Schreiben krümmt den jungen Rücken.

Jetzt, fast neunzig Jahre alt, blickt Kluge auf dieses Schreiben zurück: "Kolonne um Kolonne von Buchstaben. Noch in Handschrift. Lange war ich krank. Noch bin ich bleich. Aber schon wieder neugierig. Entzündbar von den Fundstücken in den dicken Monographien." 1968 ist noch über ein Jahrzehnt entfernt, der Stoff hat seine höchste Siedetemperatur noch nicht erreicht, aber heiß ist er schon.

Die Selbstverwaltung der Universität ist nach 1945 ein Modellfall demokratischer Kulturpolitik. Im Jahr 1958 erscheint die Dissertation bei Vittorio Klostermann. Alle Figuren und Institutionen, die darin vorkommen, die Rektoren, Kanzler und Minister, die Fakultäten und die Dekane, der akademische Senat und die Regeln von Promotion und Habilitation, werden Konfliktquellen.

Bei den Theologen, Philosophen und Juristen findet der junge Kluge eine Form

Die Quellen auf den ovalen Glastischen führen zurück bis zur Entstehung der akademischen Verfassung in Paris im 12. und 13. Jahrhundert. Jetzt kehrt Kluge zu dem jungen Mann zurück, der seine Dissertation schrieb, und markiert an ihm ein prägendes Element seiner Autorschaft: "Lesen und schreiben heißt für mich SAMMELN. Das gilt bis heute. Es steht im Gegensatz zu dem Postulat, dass ein Autor das, was er schreibt, aus seinem Inneren heraus schöpft. Was ich im Inneren denke, wäre mir zu viel 'Wiederholung'."

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Als Filmemacher geht es Alexander Kluge um Teamarbeit, die Basis der Filme sind immer Zwiegespräche. Auf diese Weise hat er ein einzigartiges Werk geschaffen.

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Als entzündbar gelten im System der Einstufung von Chemikalien Stoffe mit einem niedrigen Flammpunkt. Kluge wird durch schon Gesagtes entflammt, durch Funde. Die Kasuistik des Juristen wird sein Schreiben prägen, von der es nicht weit ist zu den Fallgeschichten der Mediziner, den Anekdoten und Kalendergeschichten, vor allem aber die Entzündbarkeit: "Es entzündet sich meine Seele am Pathos der Universitätskrise von 1229 bis 1231 in Paris. Ein Krawall zwischen Studenten und Ordnungsmacht führt zu einem institutionellen Konflikt."

Die Entzündbarkeit braucht, will sie Schrift oder Bild werden, Film oder Ton-Bild-Collage im Fernsehen, ein Repertoire von Formen. Bei den Theologen, Philosophen und Juristen, die das erste Kapitel seiner Dissertation bevölkern, findet der junge Kluge eine Form, die ihm entgegenkommt, den Kommentar. Nun, in hohem Alter, findet er einen ihrer Ursprünge, die Kommentare der Juristen im Bologna des 12. Jahrhunderts zum "Codex Justinianus", im jüngsten Werk seines Freundes Jürgen Habermas, im ersten Band von "Auch eine Geschichte der Philosophie" dargestellt, und ist begeistert. Die Kommentare verflüssigen die überlieferte Rechtsmasse, nähern den starren Kanon an die Rechtspraxis der jeweiligen Gegenwart an. "Kommentare sind kein lineares Narrativ. Sie berichten vertikal. Sie sind Bergwerke, Katakomben."

Alexander Kluge: Das Buch der Kommentare. Unruhiger Garten der Seele. Suhrkamp Verlag, Berlin 2022. 398 Seiten, 32 Euro. (Foto: N/A)

Gleich zwei aktuelle Kluge-Bücher tragen diese Form im Titel: "Das Buch der Kommentare. Unruhiger Garten der Seele" und "Zirkus Kommentar". Beide sind in hohem Grade von Selbstauskünften durchsetzt. Teile einer großen Konfession, gar einer Autobiografie sind sie nicht. Wohl aber Anwendungen des Prinzips Kommentar auf das eigene Leben. Das Prinzip des vertikalen Berichtens führt zur gleichzeitigen Anwesenheit des Kindes, des jungen Dissertanten, des alten Mannes, der ein Bild des Fotografen Gilles Pandel in sein Buch einfügt, das zeigt, wie er als Toter aussehen wird.

Hier schreibt ein Mitglied der Artistenfakultät im Doppelsinn der Zugehörigkeit zur Welt der artes liberales wie der Zirkus-Süchtigen. "Die Artisten in der Zirkuskuppel, ratlos" hieß ein berühmter Kluge. Nun findet sich unter dem Titel "Warum ich in den Zirkus als Thema meiner Filme vernarrt bin" eine Kindheitserinnerung an das Erlebnis einer Unterwassernummer in Halberstadt.

In der Artistenfakultät gilt das Prinzip Kooperation, nicht nur Trapezkünstler sind aufeinander angewiesen. "Das Buch der Kommentare" kann, wie viele vorangegangene, eine Chronik der Gegenwart nur enthalten, weil Auskunftgeber darin vorkommen. Hier ist das, in den zahlreichen Abschnitten zur Pandemie, die Virologin Karin Mölling. Sie berichtet über die vier robusten Fähigkeiten der Viren: Kleben, Schneiden, Mutieren, sich Vermehren. Viren sind zur Vergesellschaftung verurteilt, sagt sie. "Karin Mölling kann erzählen. Sie tut das in der gleichen Art wie meine Kinderfrau Magda. Ich beobachte das daran, dass ich ihr so zuhöre wie ein Vierjähriger."

Alexander Kluge: Zirkus Kommentar. Suhrkamp Verlag, Berlin 2022. 174 Seiten, 28 Euro. (Foto: N/A)

Zur Chronik der Gegenwart gehören wie die Viren die Berichte und Fernsehmitschriften zur Erstürmung des Kapitols am 6. Januar 2021. Doch sind insgesamt der Zirkus-Kommentar wie das Buch der Kommentare von der Vertikaldrift geprägt, die das Schreiben immer wieder in die Kindheit hineinzieht, in die Näheverhältnisse der Herkunftsfamilie. Die Erinnerung nistet im Geruchs- und Geschmackssinn, aber auch und vor allem im Ohr, das seit je auf die Wahrnehmung des Sozialen und herannahender Gefahren spezialisiert ist.

Zu einem Musterbeispiel akustischer Kindheitsgeschichte wird der Abschnitt "Wenn ich an meine Heimatstadt denke, geschieht das über das Ohr" mit Schneeschaufeln, Glocken, Lautsprechern, Sirenen, Bombengeschwadern und dem "Geräusch des Feuers, das in den Nachbarhäusern und auch im eigenen Haus ausbricht und die Gewaltherrschaft übernimmt. Ich höre diesen Ton bis heute." Die Begehung des zerstörten Elternhauses in der Erinnerung entspringt der Vertikaldrift, die Erkundung der Näheverhältnisse im Blick auf die Eltern, der Bericht über das Sterben der Schwester, Alexandra Kluge, im Frühsommer 2017.

Wie in allen jüngeren Kluge-Büchern werden die ohnehin zahlreichen Illustrationen durch QR-Codes ergänzt, Adventstürchen, die in digitalisierte Filme und Fernsehspots führen. Zum Kooperationsprinzip der Artistenfakultät gehört die Organisierung von Mediensymbiosen. Sie verbinden den Autor mit dem Filmemacher und Fernsehaktivisten. Das Hochseil dieses Artisten bleibt gespannt, seine Entzündungstemperatur scheint vorerst nicht zu sinken.

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