Schauspielhaus Zürich:Verschwende deine Zeit

Schauspielhaus Zürich: Ein ferngesteuerter Hund muss leider auch mal: Karin Pfammatter und der Bühnenroboter "Cassiopeia" beim Gassigehen.

Ein ferngesteuerter Hund muss leider auch mal: Karin Pfammatter und der Bühnenroboter "Cassiopeia" beim Gassigehen.

(Foto: Eike Walkenhorst/Schauspielhaus Zürich)

Am Schauspielhaus Zürich zeigt Alexander Giesche, dass "Momo" immer noch eine treffende Parabel auf eine gestresste Gesellschaft ist. Sein Gegenmittel: ausgiebiges Spielen.

Von Christiane Lutz

Zeit zu haben bedeutet zunächst einmal ausgiebig zu frühstücken. Der Tisch ist gedeckt, es gibt Kaffee und Pancakes mit wahlweise Schinken oder Ahornsirup, live auf der Bühne zubereitet. Drei Schauspieler und ein per Tablet zugeschalteter vierter plaudern ziellos, über Träume, an die sie sich nicht erinnern, über den Hund, der dringend raus müsste. Sie essen. Man könnte auch sagen: Sie leben gerade entspannt vor sich hin, ohne Druck, etwas tun zu müssen. Sie sind ganz im Jetzt.

Ganze 30 Minuten lang geht dieses Jetzt, der Duft der Pancakes hat sich irgendwann bis in die hinteren Reihen im Schiffbau des Schauspiel Zürich vorgearbeitet. Es ist die Premiere von "Momo" in der Inszenierung von Alexander Giesche, einem der Hausregisseure, sehr frei nach dem Roman von Michael Ende. Und was als belangloses Geplänkel nerven könnte, ist bei Giesche mehr eine Feier des Ziellosen. Vor allem ist es eine Kritik am allgegenwärtigen Effizienz-Diktat.

Zur Erinnerung: Momo ist das alterslose Mädchen, das anderen Menschen ihre uneingeschränkte Aufmerksamkeit schenkt. Bis die grauen Herren von der Zeitsparkasse auftauchen und die Menschen überreden, ihre Zeit fortan sinnvoll zu investieren. Verzicht auf Freundschaften, Hobbys, Liebe, für eine Zukunft in der sie die gesparte Zeit wieder einlösen können. Denn "für das richtige Leben muss man frei sein" heißt es. Alle hetzen, alle sparen Zeit, und haben doch immer weniger statt immer mehr davon. Am Ende aber geht alles nochmal gut, Momo erlöst die Welt von den grauen Herren.

Momo-Leser leiden heute an FoMO, "Fear of Missing Out"

Michael Ende veröffentlichte "Momo" 1973, ein Kinderbuch, aber auch eine Kritik an Wirtschaftswachstum und an einer Gesellschaft, in der nur der arbeitende Mensch einen Wert hat. Fortschritt durch Technik ist relativ. Nichts ist seitdem in Punkto Stress besser geworden, die Menschen sind gehetzter denn je. Technische Errungenschaften, die Apparaturen, Gadgets und Apps, optimieren heute zwar etliche Prozesse, tragen aber statt zur Ent- auch zu einer andauernden Beschleunigung bei. Nicht mal Erholung geht mehr ohne ordentliches Kuratorium, sie dient auch nur dem kapitalistischen Effizienzgedanken. Kein Wunder, dass Momo-Leser heute am phonetisch nahen "FoMO" leiden, am "Fear of Missing Out", der Angst, etwas zu verpassen.

Schauspielhaus Zürich: Spieler mit geschlossenen Augen: Karin Pfammatter, Maximilian Reichert, Thomas Wodianka beim Zeitvertreiben.

Spieler mit geschlossenen Augen: Karin Pfammatter, Maximilian Reichert, Thomas Wodianka beim Zeitvertreiben.

(Foto: Eike Walkenhorst/Schauspielhaus)

Die Motive vom Wert der Zeit und dem vermeintlichen Fortschritt durch immer mehr Technik webt Alexander Giesche zu einem melancholischen Theaterabend, der, wie die Romanvorlage, doch nicht ganz ohne Hoffnung auskommt, dafür, dass ihm eine ordentliche Portion Kulturpessimismus zugrunde liegt. Die mäandernde Frühstücksszene ist nur eine von mehreren Ausschweifungen. Immer wieder spielen die Schauspieler Spiele, am Ende häufen sie emsig zahllose Autoreifen zu einem großen Berg. Sieht zwar geschäftig aus, dient aber auch keinem höheren Zweck. Man sucht nach Sinn beim Zuschauen und muss irgendwann feststellen, dass die Sache der Sinn ist. Damit lehnt sich Giesche auch gegen die Erwartung an einen Theaterabend auf. Denn das Theater ist in Puncto Effizienzpflicht natürlich nicht besser als der Rest der Gesellschaft. Premiere jagt Premiere, Probenzeiten werden immer kürzer, ein Schauspieler krank? Darf nicht sein.

Giesche nennt seine inzwischen unverkennbaren Arbeiten "Visual Poem" und die sind umgesetzt viel weniger prätentiös, als es klingt. Denn er macht genau das: Er schafft poetische Bilder für Texte, die sich betrachten lassen wie Kunstwerke. Seine grandiose Endzeit-Inszenierung "Der Mensch erscheint im Holozän" nach Max Frisch brachte ihm eine Einladung zum Berliner Theatertreffen ein. Geschichten dramatisch nachspielen zu lassen, interessiert ihn nicht, die Schauspieler sind eher Textübermittler denn empfindende Figuren, ihr Spiel ist reduziert, beinahe pragmatisch. Sie fügen sich ins große atmosphärischen Bildergedicht, das außerdem immer auch aus Musik, Worten, aufwendiger Technik und Timing besteht.

Die grauen Herren rauchen nicht länger Zigarre - sie vapen

Auch "Momo" enthält diese Zutaten. Neben den sich gegenläufig drehenden Ringen der Drehbühne steht eine riesige Leinwand, die auch ein Handybildschirm sein könnte (Bühne: Alexander Giesche und Anka Bernstetter). Eine Nebelmaschine produziert surreale, gigantische Rauchringe, die in den Zuschauerraum fliegen und dort mit einem spürbaren Hauch verpuffen - kleiner Gruß an die hier nicht zigarrerauchenden, sondern vapenden grauen Herren. Über dem Autoreifenhaufen rotiert am Ende minutenlang ein Scheinwerfer wie ein gigantisches Uhrenpendel über einem Schrottplatz der verworfenen Technologien. Dazu dröhnt ein sehr hipper Soundtrack, featuring Christine and the Queens, Father John Misty und die offensichtlich nicht nur an "FoMO" leidende Billie Eilish.

Die Schauspieler Karin Pfammatter, Maximilian Reichert und Thomas Wodianka skizzieren locker die Momo-Geschichte, Thomas Hauser, Mitglied im Ensemble der Münchner Kammerspiele, ist per Tablet live zugeschaltet. Und hier greift Giesche neben der Zeitfrage die Technikfrage auf. Denn einerseits suggeriert ein digitaler Schauspieler ja Fortschritt, eine Erweiterung des Theaterraums ins Netz, somit eine Möglichkeit. Welcome to the Metaverse. Und Hauser ist irre präsent, dafür, dass er zu Hause in seinem Wohnzimmer sitzt. Gleichzeitig aber markiert ein Tablet auf einen fahrbaren Ständer montiert nun mal eine groteske Nutzlosigkeit, denn Hauser ist auf die Hilfe seiner Kollegen angewiesen. Und auf eine stabile Internetverbindung.

Dazu passt auch der ferngesteuerte Roboterhund Cassiopeia. Der trippelt in einer aufdringlichen Nebenrolle erstaunlich hundeähnlich umher, nervt, ist nutzlos in dem Moment, als man ihm den Akku entfernt. Giesche scheint einerseits fasziniert von solchen Spielereien, versucht aber gar nicht, seine Abhängigkeit als Regisseur von der von ihm exzessiv eingesetzten Technik zu verschleiern. Sehr prominent platziert acht Technikerinnen und Techniker mit all ihren Monitoren und Steuerboards in die erste Reihe. Ohne sie geht gar nichts.

Ohne moralischen Zeigefinger und glücklicherweise auch fern von Achtsamkeitstrainigsmethoden von wegen "nutze den Tag, tue nichts" zeigt Alexander Giesche in "Momo" also zweierlei auf. Erstens: Die Menschheit ist sagenhaft schlecht darin, mit Zeit umzugehen. Zweitens: Der technische Fortschritt bringt nur bedingt die Lösung. Das Theater ist bei beidem mitgemeint. Mit Ellbogen stemmt sich hier ein durchaus am eigenen System zweifelnder Regisseur mit "Momo" gegen jeglichen Effizienzgedanken und Leistungsdruck, zugunsten eines planlosen Spiels, bei dem die Regeln allzeit einsehbar sind. Eine Lösung ist das nicht, aber eine poetische, berührende Verschnaufpause.

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