"Alcarràs - Die letzte Ernte" im Kino:Ärger im Paradies

"Alcarràs - Die letzte Ernte" im Kino: Alles ist magisch aus der Perspektive der Kinder: Szene aus "Alcarràs - Die letzte Ernte".

Alles ist magisch aus der Perspektive der Kinder: Szene aus "Alcarràs - Die letzte Ernte".

(Foto: Piffl Medien)

In ihrem Berlinale-Gewinner "Alcarràs - Die letzte Ernte" beschwört die Spanierin Carla Simón einen wunderbaren letzten Sommer auf dem Land.

Von Phlipp Stadelmaier

Anfangs spielen die Kinder in einem ausrangierten Autowrack Astronauten, die auf die Sonne zufliegen. Später sagt jemand: "Wir werden noch blind von der Sonne", und schließlich steckt der Name des zentralen Himmelsgestirns noch im Familiennamen der Solés, die vom Anbau von Pfirsichen leben. Welche bekanntlich zum Wachsen viel Sonne benötigen.

Die Sonne ist allgegenwärtig in "Alcarràs - Die letzte Ernte", dem zweiten Kinospielfilm von Carla Simón, der erst fünfunddreißig Jahre alten spanischen Regisseurin, die dafür bei der diesjährigen Berlinale mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet wurde. Vielleicht ja auch der Sonne wegen, an der sich die Jury im unwirtlichen Berliner Winter gewärmt haben dürfte. Für die offenkundigen Qualitäten und Schönheiten ihres Films hat Simón den Preis in jedem Fall verdient.

"Fridas Sommer", ihr erster Spielfilm von 2017, erzählt von einem Mädchen, das nach dem Tod ihrer Mutter von Barcelona zu Verwandten ins katalonische Hinterland zieht. Dort spielt auch "Alcarràs", benannt nach dem Dorf in der Nähe des Anwesens, das den Mikrokosmos des Films bildet. Es ist Sommer, und die Pfirsich-Ernte steht an, bei der alle drei Generationen der Solés, Großeltern, Eltern und Enkel, voll eingespannt sind. Fast alle leben unter einem Dach, in einem Haus inmitten der Plantage.

Doch während wie immer die Traktoren zwischen den Baumreihen tuckern, die Kinder zwischen den Bäumen rennen, die Großmutter Geschichten aus der Vergangenheit erzählt und abends die Tagesernte zur Kooperative gefahren wird, ist allen klar, dass diese Ernte aller Voraussicht nach die letzte sein wird. Generell ist die Situation für die Bauern schwer; durch Preisdumping sind viele gezwungen, ihr Land zu verkaufen. Die Solés haben ihr Land von einer anderen Familie, den Puyols, nur gepachtet. Verträge gibt es keine, Abmachungen wurden per Handschlag getroffen. Nun will der selbstherrliche junge Puyol, den die Großmutter "den Sonnenkönig" nennt, die Bäume fällen, um eine Solaranlage aufzubauen. Das ist gut fürs Klima und die Energiewende, aber schlecht für die Solés.

Der Großvater (Josep Abad) resigniert. Der Vater (Jordi Pujol Dolcet) weigert sich, die Realität anzuerkennen. Der älteste Sohn (Albert Bosch) tut sein Bestes, um den widersprüchlichen Erwartungen des Vaters zu genügen: Soll er nun ein guter Pfirsichbauer werden oder seine Energie aufs Studium verwenden? Tante und Onkel schauen sich schon nach den neuen Verdienstmöglichkeiten auf der zukünftigen Solaranlage um. Zerwürfnisse drohen.

Nur die Kleinsten spielen einfach weiter. Wenn ihr Autowrack am Anfang entfernt wird, ziehen sie um in eine Pfirsichkiste. Überhaupt ist der Film immer dann am schönsten, wenn er die Perspektive der Kinder einnimmt - oder wenn kleinste Details genügen, um eine ganze Stimmung zu erzeugen: liegen gelassene Schuhe im Regen, eine nach einem Fest auf der Oberfläche des Pools treibende Plastikflasche.

Die Regisseurin Simón ist selbst in dieser Gegend aufgewachsen, auch ihre Familie lebt von der Pfirsichzucht. Vielleicht kommt deswegen vieles, was nicht direkt mit der Familie zu tun hat, etwas zu kurz: Die Situation der schwarzen Migranten, die sich als billige Arbeitskräfte auf der Plantage verdingen, bleibt unbehandelt, die politischen Aktivitäten der Kooperative werden höchstens angerissen. Die Familie bleibt bei allen Spannungen ein geschlossener Kosmos, Simóns Inszenierung beschwört stets Nähe und das Zusammensein: nachmittags bei der Siesta, abends im Bade- und im Schlafzimmer, nachts auf der Terrasse, am Wochenende bei einer Familienfeier.

Die Sonne des spanischen Sommers bringt den Film zum Leuchten

Doch die Regisseurin zeigt Familie weniger als festen Stamm, eher als flexibles Netz. Dass die hervorragenden Schauspielerinnen und Schauspieler Laien sind, bewahrt den Film vor jeglicher Art von Dramatisierung. Sie spielen ihre Figuren nicht, sondern halten vielmehr ihre Gesichter der Sonne entgegen, die auf ihnen abprallt und zeigt, wer sie sind: Menschen aus der Region, die für Simóns Film zu einer Wahlfamilie zusammenkommen. Sie leihen den Figuren auch ihre Sprache: einen Dialekt, der nur hier gesprochen wird. Die Kamera webt sie zusammen, ebenso wie die sich immer weiter entfaltende, außerhalb des Bildrandes neugierig fortgeführte Wirklichkeit: Immer wieder hören wir in einer Szene bereits den Dialog der nächsten, wird vorweggenommen, was gleich darauf im Raum "nebenan" zu sehen sein wird.

Das verbindende Medium dieses Familienporträts ist dabei die Sonne selbst. So, wie es immer etwas oder jemanden nebenan gibt, gibt es immer auch einen Lichtstrahl oder ein Sonnenfeld, das einige Meter weiter, am Ende eines Kameraschwenks, schon gewartet hat, bereit, von jemandem betreten zu werden. Das Wort "sonnendurchflutet" kommt in den Sinn, aber es ist falsch. Die Sonne flutet hier nicht unkontrolliert. Sie flackert zwischen den Blättern der Pfirsichbäume hindurch auf den Gesichtern, verteilt sich gleichmäßig, verleiht dem Porträt dieser Filmfamilie Harmonie und Wärme, bringt es zum Leuchten.

Andere berühmte Sommerfilme, in denen Familien zusammenkommen, Louis Malles "Milou en mai" etwa oder Olivier Assayas "L'Heure d'été", haben oft einen konservativen Touch: Mit dem vergänglichen Sommer wird auch die Vergänglichkeit der Zeit vermessen, werden brutale Veränderungen in der äußeren Welt diskutiert und Fragen von Erbe und Tradition verhandelt. In "Alcarràs" hingegen gibt es lediglich das kollektive Schaffen von Erinnerungen, für jene Zeit, in der es die Welt der Pfirsiche nicht mehr geben wird. Überhaupt: Sommer muss man genießen, solange es noch geht. Irgendwann könnten sie zu heiß werden.

Alcarràs - Die letzte Ernte, Spanien / Italien 2022. Regie und Buch: Carla Simón. Kamera: Daniela Cajías. Mit Josep Abad, Jordi Pujol Dolcet, Anna Otín. Verleih: Piffl Medien, 120 Minuten. Kinostart: 11. 8. 2022.

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