Album von Jamie-Lee Kriewitz:Die Mär vom seltsamen Popmädchen

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Pinke Horrorshow? Auf ihrem Debütalbum "Berlin" klingt ESC-Teilnehmerin Jamie-Lee Kriewitz angenehm melancholisch. (Foto: Michael Zargarinejad/Universal Music)

ESC-Kandidatin Jamie-Lee Kriewitz klingt auf ihrem Debütalbum wie Miley Cyrus. Zumindest wie ihre kleine Schwester, die sich noch nicht traut, nackt auf der Abrissbirne zu reiten.

Albumkritik von Johanna Bruckner

Jamie-Lee Kriewitz ist eines dieser seltsamen Mädchen des Pop. Mädchen nicht im pervertierten Heidi-Klum-Sprech, sondern Mädchen als positiv-pubertärer state of mind junger Künstlerinnen: verrückt sein, anecken, über die Stränge schlagen, sich selbst finden, - und dann alles wieder über den Haufen werfen. Die seltsamen Mädchen des Pop, die ganz selbstverständlich im Kuscheltierkostüm über den roten Teppich schreiten oder mit Schmuddelteddy fürs Albumcover posieren, haben das Außenseitertum massentauglich gemacht. Ihre Inszenierung ist selbstbewusst und längst salonfähig, siehe Lady Gaga, siehe Miley Cyrus und siehe Jamie-Lee.

Die nennt ihren Stil Harajuku (nach dem gleichnamigen Szeneviertel in Tokio) und gewann als Manga-Mädchen mit Petticoat-Röcken und überdimensionierten Schleifen im Haar die Musikcastingshow The Voice of Germany. Sie ist die deutsche Kandidatin für den Eurovision Song Contest am 14. Mai in Stockholm - mehr Mainstream kann man kaum sein. Wirklich glücklich scheint die 18-jährige Jamie-Lee das Angekommensein aber nicht zu machen. Optisch ist ihr Debütalbum "Berlin" zwar Bubblegum-bunt, aber musikalisch herrscht Melancholie. Im besten Sinne.

Während Miley Cyrus lustvoll auf ihrem wrecking ball reitet, wird Jamie-Lee im Song "Lion's Heart" von einer Abrissbirne umgehauen: "Life - it can knock you down so hard / hits you like a wreckingball". Das Leben, also das echte, abseits der Bühne, es lässt dich manchmal hart aufschlagen - und beim "hard" schraubt sich die Stimme der jungen Sängerin in die Höhe, sie klingt dann nicht klagend, sondern ganz klar. Wo die Stimme von AnnenMayKantereit-Sänger Henning May Lebenserfahrung vortäuscht, singt Jamie-Lee fast ohne Emotion. Zwischen den Zeilen ertönen geisterhaft die Flöten.

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Widersprüche statt Klischees, das ist Jamie-Lees Stärke. Aber es ist eben auch eine clevere Marketingsstrategie. Heidi Klum würde sagen: "Das Mädchen ist edgy, das mögen die Kunden." Unangepasstheit ist in der Popmusik auch Programm. Keines der zehn Lieder auf "Berlin" stammt von Jamie-Lee selbst: Sie singt Texte, die für sie geschrieben wurden, zu Musik, die andere abgemischt haben. Auch "The Hanging Tree" ist auf dem Album, im Original ein Filmsong aus der "Tribute von Panem"-Reihe, Jennifer Lawrence singt ihn als unwiderstehliche Widerstandskämpferin Katniss Aberdeen. Jamie-Lee trat mit dem Titel bei den "Blind Auditions" von The Voice of Germany an, jener Show, die sie am Ende gewann - unwiderstehlich eben.

Nichts, was nicht wieder heilen würde

Das alles ist gut gemacht, aber am Ende verkauft Jamie-Lee ein Produkt: das seltsame, kämpferische Popmädchen, das sich jene Mädchen zum Vorbild nehmen können, die für ihr Anderssein nicht gefeiert, sondern ausgegrenzt werden. So wird aus dem Coming-of-Age-Song "Lion's Heart" zum Refrain hin eine knallige Pophymne. Nur gebrochene Knochen, nichts, was nicht wieder heilen würde, versichert Jamie-Lee ihren Hörerinnen - und setzt dann zum bombastischen "Hallelujah" an.

Viele Songs auf "Berlin" sind solche Ermutigungslieder, auch "Ghost" - mit diesem Titel geht Jamie-Lee in Stockholm an den Start. "The story of us, is it already told? / Let's tear the book apart, start to rewrite it all", singt die 18-Jährige. Zeilen, die an die verflossene Jugendliebe gerichtet sein könnten - oder an die beste Freundin. "The love we get is the love we give".

An der Hand der rosafarbene Schmuddelteddy: Jamie-Lee Kriewitz auf dem Cover ihres Debüts "Berlin". (Foto: dpa)

Sich anbiedern, um anzukommen? Darum betteln, akzeptiert und geliebt zu werden? Die seltsamen Mädchen des Pop haben den Schulhof mit seinen unbarmherzigen Regeln hinter sich gelassen. Heute gilt: Wenn du mich magst, mag ich dich. Vielleicht.

Dazu passt, dass ausgerechnet der Titeltrack "Berlin" kein Radiomaterial ist - obwohl sich das vermarktungsmäßig angeboten hätte, schließlich ist die Hauptstadt Sehnsuchtsort derer, die an der Kleinbürgerlichkeit der eigenen Heimat verzweifeln. Aber der Text ist zu kryptisch, die Musik zu wenig eingängig, das Ende zu abrupt - Miley Cyrus würde der Song vermutlich gefallen. An manchen Stellen klingt Jamie-Lee tatsächlich wie die US-Amerikanerin. Oder zumindest wie ihre kleine Schwester, die sich noch nicht traut, von der Schaukel auf die Abrissbirne umzusteigen.

Ausgefallen und Allerweltspop zugleich

Im Übrigen nicht die einzige musikalische Anleihe: "Ghost" stand zwischenzeitlich im Verdacht, ein Plagiat von Rihannas "Umbrella" zu sein. Jamie-Lees Chancen beim ESC müssen deswegen nicht schlecht stehen. In der vergangenen Jahren waren häufig Beiträge ganz vorne, die entweder ausgefallen und verrückt waren oder Allerweltspop - Jamie Lee bietet beides. Sie selbst hat einen Platz im Mittelfeld als Ziel ausgegeben. Wie gesagt: Mileys Mut fehlt noch.

Möglicherweise hat das aber auch mit gesundem Selbstschutz zu tun. Denn mit Ausnahme von Lena Meyer-Landrut und Nicole hat der ESC den wenigsten deutschen Künstlern Glück gebracht. "The way you look at me / just tell me what you see", singt Jamie-Lee, "something beautiful / or just collectible?" Der Song heißt "Wild One" - es ist der beste Song des Albums: Die dräuenden Trommeln treiben das wilde Ding vor sich her, zwischendurch darf Jamie-Lee zeigen, dass sie auch rappen kann. Und diese Lyrics!

I'm not your freak / you can keep / but I'm a wild one

Noch werden Jamie-Lee solche Zeile auf den Leib geschrieben. Es wäre ihr zu wünschen, dass sie die Chance bekommt, irgendwann mehr zu sein als die Projektionsfläche für ein Popnarrativ. Das des seltsamen Mädchens.

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