Kinderbuch:Ein Vogelnest unter der Mütze

Kinderbuch: Albert Wendt: Geschichten unter einem weiten Himmel. Jungbrunnen 2022. 200 Seiten, 17 Euro.

Albert Wendt: Geschichten unter einem weiten Himmel. Jungbrunnen 2022. 200 Seiten, 17 Euro.

(Foto: Verlag)

Wiederbegegnung mit den fantastischen Geschöpfen von Albert Wendt aus den 80er-Jahren. Neu im Reigen ist der Zwergdrache "Hipp".

Von Siggi Seuß

Da sind sie ja wieder, die wundersamen Geschöpfe aus Fantasie und Feder von Albert Wendt. Jetzt tummeln sie sich in den "Geschichten unter einem weiten Himmel": Prinzessin Zartfuß, Stolperhahn, Klein-Eierhuhn, der kleine Kunze, Prinzessin Wachtelei, Vogelkopp, Betti Kettenhemd neben Rebhuhn Tek-Tek und Schwarzem Mülleimer und natürlich auch Lavendel, die zartgeflügelte Dampfwalze.

Aber es gibt in "Geschichten unter einem weiten Himmel" auch jemanden, der neu im Reigen der menschenfreundlichen Märchenwesen ist: den Zwergdrachen Hipp

Eigentlich waren sie ja nie weg. Nur an den Rand des Erinnerns gedrängt, weil so viele furchtbare Dinge auf diesem Erdenrund passieren. Und deshalb ist es nicht nur tröstlich, sondern geradezu überlebensnotwendig, dass sie wieder aus den Buchseiten hüpfen und flattern und stampfen und fauchen, ihren Schabernack treiben - und Kinder freundlich an der Hand nehmen. In den vergangenen vierzig Jahren kreuzten sie immer mal die Wege derjenigen, die gerne in Hörspiele eintauchen oder in die magische Welt des Theaters oder die einfach in einem Kinderbuch verschwinden, um Hoffnung zu schöpfen. Der Vogelkopp, zum Beispiel, ein Holzfäller, der unter seiner Mütze ein Vogelnest beherbergt und sich couragiert jeder Anmaßung erwehrt, erlebte seinen ersten Auftritt in einem Hörspiel des Rundfunks der DDR 1984, bevor er seinen Weg durch die Welt machte. Der Stolperhahn betrat schon im Oktober 1981 die Bühne, Prinzessin Zartfuß 1984 und Betti Kettenhemd 2001. Und viele der Geschöpfe fanden sich später auch im Buch wieder.

Aber es gibt in "Geschichten unter einem weiten Himmel" auch jemanden, der neu im Reigen der menschenfreundlichen Märchenwesen ist: den Zwergdrachen Hipp. Eigentlich heißt er ja "Hyppolitos mit dem Duft einer taufrischen Pferdeweide stark mit Wermut durchwachsen, Sohn einer nach Butterstreusel duftenden Drachenmutter". Der Name wäre für das Mädchen Marianna, dem er sich eben in die offene Hand gesetzt hat, denn doch etwas zungenbrecherisch. Deshalb einigen sich die beiden auf "Hipp und Ann" - und so heißt auch die Geschichte. Hipp lebt im Geäst einer uralten Sommerlinde, die Wald- und Wiesenfreunden ziemlich bekannt vorkommt. Man denke nur an die Mistelnester in den Wipfeln betagter Bäume - ideale Behausungen für Zwergdrachen. Hipps vornehmster Daseinszweck stößt zudem auf größtes Wohlwollen jener, denen ein Smartphone ein Gräuel ist, das an die Hand eines jungen Menschen angewachsen scheint. Ein Drächlein wie Hipp fliegt nur in die freie, offene Hand eines ganz bestimmten Kindes. Von dort aus jedoch kann es Wunder bewirken, die jedes Handy erblassen lassen. Da hat Ann ungeheures Glück, auch wenn sie gerade im Geäst jener Sommerlinde sitzt und schmollt. Denn der liebe Großvater hat aus Zorn das Ding zertrampelt. Anns Hand ist also wider Willen frei und - schwupps - nimmt Hipp dort Platz. Mit ungeahnten Folgen.

Die Gedankenexkursionen des Wortzauberers Wendt schlängeln sich in Bögen und Kringeln durch Landschaften und Lebensweisen - zwischen fantastischer Wirklichkeit und wirklicher Fantasie. So wie der Weg, den Lavendel von der Haustür zur Gartenpumpe des Märchenerzählers gewalzt hat. Auf diesem labyrinthisch anmutenden Pfad fliegen einem Gedanken durch den Kopf, die einem schnurstracks völlig entgangen wären. Zum Beispiel die Erkenntnis, dass es wichtiger ist, Beulen und Dellen aus Regenbögen zu walzen als Hemden glattzubügeln. Und wer könnte das besser als eine zartgeflügelte Dampfwalze oder ein Zwergdrache, dessen Drachenmutter nach Butterstreuseln duftet?

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