Das Rezept ist ganz einfach. Man nehme Schwefelpulver, rohes Palmöl, Ölreste aus Sardinenbüchsen und Schmierseife, dann wird der Patient damit „angestrichen“. Man gebe ihm in einer Blechdose eine Portion Salbe mit, „um sich zu Hause zweimal selber anzustreichen“, und der Erfolg stellt sich bald ein. „Am zweiten Tag bereits lässt das Jucken nach“, notiert der Arzt. „Meine Krätzsalbe hat mich in wenig Wochen weithin berühmt gemacht.“
Die Krätze gehört zu den harmloseren Leiden, die Albert Schweitzer behandeln muss, nachdem er 1913 in der Missionsstation von Lambarene im heutigen Gabun angekommen ist. In der Siedlung wenige Kilometer südlich des Äquators behandelt der Tropenarzt „hauptsächlich Hautgeschwüre verschiedenster Art, Malaria, Schlafkrankheit, Lepra, Elephantiasis, Herzkrankheiten, Knocheneiterungen und tropische Dysenterie“, die schmerzhafte Amöbenruhr. Manchmal kommt es auch vor, dass „ein Kanoe einen jungen Mann brachte, dem ein Nilpferd im See Sonange den rechten Oberschenkel gebrochen und in schrecklicher Weise zerfleischt hatte“.
Unter den Ureinwohnern Gutes tun
Die ersten 30 Lebensjahre des am 14. Januar 1875 in Kaysersberg im Oberelsass geborenen Schweitzer hatten nicht danach ausgesehen, dass er sich zweieinhalb Jahrzehnte Krankheit und Not in Afrika widmen würde. Mit 24 Jahren war er zum Doktor der Philosophie promoviert worden, mit 25 Jahren folgte die Promotion zum Doktor der Theologie. Der junge Mann, der mit seinem buschigen Schnurrbart jederzeit einen Nietzsche-Ähnlichkeitswettbewerb gewonnen hätte, war außerdem ein begnadeter Orgelspieler. Mit 28 Jahren begann er, an seiner bald in mehreren Sprachen veröffentlichten Biografie über Johann Sebastian Bach zu arbeiten. Eine glänzende Laufbahn lag vor ihm, doch 1905, gerade 30 geworden, brach Albert Schweitzer diese Karriere ab, um ein weiteres Studium zu beginnen, und zwar Medizin an der Universität Straßburg.

Caroline Fetscher: "Tröstliche Tropen":Der gütige Deutsche
Keiner wurde im Nachkriegswestdeutschland so verehrt wie Albert Schweitzer. Die Gründe, die Caroline Fetscher dafür findet, lassen tief blicken in die Abgründe der frühen Bundesrepublik.
Grund dafür war nicht etwa der Wunsch nach einem weiteren akademischen Standbein. Schweitzer schildert seine Motivation wie folgt: „Ich hatte von dem körperlichen Elende der Eingeborenen des Urwaldes gelesen und durch Missionare davon gehört“, schreibt er in seiner 1921 erschienenen Autobiografie „Zwischen Wasser und Urwald“. „Je mehr ich darüber nachdachte, desto unbegreiflicher kam es mir vor, dass wir Europäer uns um die große humanitäre Aufgabe, die sich uns in der Ferne stellt, so wenig bekümmern.“ Weiter fordert er, „unsere Gesellschaft als solche muss die humanitäre Aufgabe als die ihre anerkennen. Es muss die Zeit kommen, wo freiwillige Ärzte, von ihr gesandt und unterstützt, in die Welt hinausgehen und unter den Eingeborenen Gutes tun“.
Schweitzer belässt es nicht bei frommen Worten. Er schließt 1912 sein Medizinstudium ab, promoviert über „die psychiatrische Beurteilung Jesu“ und führt damit drei Doktortitel. Im selben Jahr wird er zum Professor für Theologie ernannt. Doch anstatt sich auf seinen akademischen Lorbeeren auszuruhen, schifft er sich im März 1913 zu einer Reise an die Ufer des Ogowe nach Lambarene ein, um dort für zunächst viereinhalb Jahre als „Urwalddoktor“ tätig zu sein. Immer wieder bricht er in den nächsten Jahrzehnten in die ärmliche Siedlung auf, errichtet dort ein Hospital und behandelt Tausende Patienten. Teilweise kommen die Kranken aus hundert Kilometer entfernten Weilern, um vom „grand Docteur“ behandelt zu werden. Insgesamt wird Schweitzer – zumeist in Begleitung und unter Mithilfe seiner Frau Helene, einer ausgebildeten Krankenschwester – mehr als 25 Jahre in Afrika tätig sein.
Was treibt eigentlich die gegenwärtigen Chefärzte und andere Doktoren so an?
Nun mag es unfair sein, die Lebensleistung einer Jahrhundertfigur wie Albert Schweitzer mit dem Tun heutiger Ärzte zu vergleichen. Zwar spielen etliche Doktoren unserer Zeit ein Instrument, die Ärzteorchester und Streichquartette unter „Kollegen“ zeigen es. Auch belegen manche Medizinstudenten Seminare in Philosophie oder Kunstgeschichte, sodass bildungsbürgerliche Musterkarrieren zustande kommen. Doch dass eine herausragende theoretische Ausbildung und praktische Fertigkeiten dort eingesetzt werden, wo sie besonders dringend nötig sind, das findet sich selten. Warum eigentlich? Wieso sind Ärzte wie Schweitzer und Rudolf Virchow so rar? Virchow, der im 19. Jahrhundert nicht nur ein Wissenschaftler von Weltruf war, sondern auch als Arzt wie als Sozialpolitiker gegen Armut und Krankheit vorging und nebenbei die Kanalisation in Berlin vorantrieb? Müssen es solche Ausnahmeerscheinungen sein, die sich für das Gemeinwohl und diejenigen einsetzen, die ganz besonders auf Hilfe angewiesen sind? Was treibt eigentlich die gegenwärtigen Chefärzte und andere Doktoren so an?
Heute bieten manche Mediziner aus hiesigen Kliniken auf dem Zenit ihrer Karriere ihr Können in Dubai, Katar oder Saudi-Arabien an. Auch dort mögen manche Operationsverfahren nicht ausreichend eingeübt sein, doch die Motivation für diese Form der Entwicklungshilfe liegt wohl nicht darin, die Ärmsten der Armen gesund zu machen. Natürlich gibt es auch Ärzte aus Deutschland, die in bedürftigen Regionen wie Äthiopien oder Nepal behandeln, den medizinischen Nachwuchs dort schulen und ihren Urlaub dafür verwenden. Doch dass jemand sein Berufsleben vollkommen in den Dienst der guten Sache stellt? Im Notstandsgebiet nicht nur in der medizinischen Versorgung Hand anlegt, sondern auch Balken zuschneidet und Dächer deckt, damit das notdürftig errichtete Hospital bald in Betrieb gehen kann, wo findet man das schon?
Schweitzer muss gegen allerlei Unbill ankämpfen, etwa sich der Termiten erwehren, die seine hölzernen Praxis- und Krankenhausräume zu zerstören drohen. Er muss gegen Unwetter, Spinnen, Schlangen und eigene Krankheit bestehen – bei großer Hitze, in der Regenzeit und bei extremer Luftfeuchtigkeit. Doch „mögen die Mittel noch so beschränkt sein: was man damit ausrichten kann, ist viel“, notiert er. Wie gerne hätte er, dass die privaten Spender aus Europa, die seine Tätigkeit unterstützen, „die frisch verbundenen Patienten, die den Hügel heruntersteigen oder heruntergetragen werden, sehen könnten“. Oder die dankbaren Gesten verfolgen, „mit denen mir eine herzkranke, alte Frau beschreibt, wie sie auf Digitalis wieder zu atmen und zu schlafen vermocht habe“.
Die Zusammenarbeit mit Joseph Goebbels lehnt Schweitzer ab, „mit zentralafrikanischem Gruß“
Schweitzer entwickelt seine Ethik von der „Ehrfurcht vor dem Leben“, die er in einer Predigt mit schlichten, wahren Worten erklärt: „Gut ist: Leben erhalten und fördern; schlecht ist: Leben hemmen und zerstören.“ Demnach ist „das Miterleben des andern Lebens das große Ereignis für die Welt“. Man kann Mitgefühl und Menschlichkeit komplizierter ausdrücken. Schweitzer wirbt unermüdlich und mit klaren Botschaften für den Dienst am Nächsten, wenn er in Europa auf Konzert- und Vortragsreisen geht. Und er lässt sich nicht vereinnahmen. Der Briefwechsel ist verschollen, doch als Joseph Goebbels ihn als Aushängeschild für das Nazi-Regime gewinnen will und sein Schreiben „Mit deutschem Gruß“ unterzeichnet, lehnt Schweitzer jede Zusammenarbeit ab und unterschreibt „Mit zentralafrikanischem Gruß“. Als später die DDR den Friedensfreund und Vietnamkriegsgegner für sich gewinnen will, bleibt er auf freundlicher Distanz.
1951 bekommt er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen. 1954 nimmt er den ihm für 1952 zugesprochenen Friedensnobelpreis entgegen. Die Preissumme verwendet er im Wesentlichen dafür, das Lepradorf in Lambarene fertigzustellen. Sein Ruhm wächst nach dem Zweiten Weltkrieg weiter an. Gelegentlich wird Schweitzer in dieser Zeit Eitelkeit und Selbstinszenierung vorgeworfen, zudem eine paternalistische und kolonialistische Haltung. Er tat viel Gutes und redete und schrieb ausführlich darüber. Er war ein Kind seiner Zeit, vertrat aber eine zeitlose Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben. Er sah alle Menschen als Brüder und blieb dennoch in Afrika „zeitlebens der Ältere im Land seines jüngeren Bruders“, wie Nils Ole Oermann in seiner Biografie ein Zitat Schweitzers aufgreift. Dass Beiträge erschienen, die am „Mythos Schweitzer“ kratzten, lag auch daran, dass manche Beobachter aus der Ferne in Lambarene „ein Paradies der Gutmütigkeit und Großherzigkeit“ erwartet hatten, dort aber auch Strenge und Hierarchie vorfanden oder feststellen mussten, dass Schweitzer wegen regelmäßiger Diebstähle „nichts unverschlossen“ ließ. Trotzdem ist immer wieder vom Respekt und der Bewunderung die Rede, die der Arzt für seine Patienten und Helfer fand.
Schweitzers Verdienst war es, Menschen zum praktischen Tun zu bewegen und mit seinem kleinen Hospital im Urwald „als Versuch eines gelebten Ethos“ (Oermann) dazu beizutragen. Zu Schweitzers Einheit von Leben und Lehre passt der Name Lambarene, der in der lokalen Sprache „Wir wollen es versuchen“ bedeutet. Als Schweitzer am 4. September 1965 mit 90 Jahren stirbt, wird er an seinem Wirkungsort zutiefst verehrt und bewundert. Seinen Holzsarg hat er 1964 noch selbst gezimmert; ein schlichtes Kreuz markiert sein Grab hinter dem Hospital.