Alben der Woche:Ein königliches Riesenbaby, das sein Volk vor Gefahren rettet

Die "Flaming Lips" veröffentlichen eine strahlend utopische Konzeptplatte, "Gauche" ein Sommeralbum über die Wut. Und Xavier Naidoo versucht es mit der Liebe. Klappt aber nicht gut.

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The Flaming Lips - "King's Mouth" (Bella Union)

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Quelle: SZ

Das neue Album der Flaming Lips gab es zum Record Store Day bereits kurz als limitierte Vinyl-Version, nun können sich endlich alle an ihrem neuen fantastisch bunt-glitzernden Psychedelic-Pop-Trip erfreuen. Denn eine so strahlend utopische und zugängliche Konzeptplatte ist Sänger Wayne Coyne seit "Yoshimi Battles The Pink Robots" (2002) nicht gelungen. Dabei hatte man nach den teils bizarren Experimenten und Abstraktionen der letzten Lips-Platten schon Angst gehabt, die Band würde zur eigenen Parodie werden. Aber in Form einer versponnenen, von Clash-Gitarrist Mick Jones erzählten Heldengeschichte über ein königliches Riesenbaby, das sein Volk vor einer fremden Gefahr rettet, findet Coyne zurück zu seiner ursprünglichen Kunst, sich mit Hilfe der Fantasy-Welten seiner Figuren durch universelle Themen wie Beziehungen, Erinnerung und Tod zu wühlen. "Although I have died / I will always exist", legt er seinem König jubilierend in den Mund. Und meint sich selbst und uns alle.

Annett Scheffel

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Gauche - "A People's History of Gauche" (Merge).

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Quelle: SZ

In der ziemlich lebendigen Indie-Szene von Washington, D.C., spielen Bands wie Priests und Downtown Boys seit ein paar Jahren lauten, euphorischen und klugen Postpunk. Seit neuestem auch Gauche, eine Art "Supergroup" aus Mitgliedern der anderen Bands. Zu hören auf der tollen Platte "A People's History of Gauche" (Merge). Schnell und ansteckend sind die Gauche-Dreiminüter, mit drängelnden Beats und zackigen Gitarren, so leuchtend und tanzbar, wie Postpunk Ende der Siebziger schon einmal klang - und so politisch, wie es die Gegenwart verlangt. In bissigen Zeilen geht es um die Hamsterräder unserer Zeit, um Lohnschecks, Überwachung, die Ohnmacht von Frauen und People of Colour und das Gefühl, ausweglos im System festzustecken. Kurzum: eine Sommerplatte über die Wut, über das Wegtanzen und Rausschreien ebendieser - und über die Schönheit des Dagegenhaltens.

Annett Scheffel

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Ider - "Emotional Education" (Glassnote/Awal)

Ider - „Emotional Education" (Glassnote/Awal)

Quelle: Glassnote/Awal

"Ich kann nicht aufhören, in den Spiegel zu gucken; sehe ich wirklich so aus?" Mit dieser Frage eröffnet das Londoner Duo Ider ihr Debütalbum "Emotional Education" (Glassnote/Awal). In den vergangenen zwei Jahren sind Megan Markwick und Lily Somerville bereits mit einer Handvoll Singles zwischen taufrischem Elektro-Pop und knisterndem R'n'B aufgefallen, die mit einer schönen Aufrichtigkeit, aber ohne die theatralische Hymnenhaftigkeit üblicher Chart-Pop-Acts von der Identitätsfindung einer jungen Generation berichten. Auf Albumlänge geht ihnen zwischen den schimmernden und piepsigen EDM-Elementen zwar leider ein wenig die Dringlichkeit verloren, toll ist aber immer noch die Art, wie die beiden zusammen singen: jede wie eine Hälfe einer gemeinsamen Stimme, ineinander verschränkt und sich gegenseitig verdoppelnd. Es ist diese Zweiköpfigkeit, die den Songs eine hellsichtige Zerrissenheit einpflanzt. Zum Beispiel in "You've Got Your Whole Life Ahead Of You Baby", dem besten Stück der Platte: Da singen sie "Ich", meinen aber "Wir": "I'm in my 20s / So I'm panicking every way." In seinen Zwanzigern sein, das bedeutet mehr als je zuvor: auf jede erdenkliche Weise in Panik zu geraten.

Annett Scheffel

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Xavier Naidoo - "Hin und weg" (Sony Music)

Xavier Naidoo - 'Hin und Weg'

Quelle: dpa

Der Mann, dem man nicht mehr traut, weil er die wirrsten Aluhut- und Reichsürger-Ansichten vertritt, will das Vertrauen zum Publikum zurückgewinnen, indem er auf seinem neuen Album über die Dinge singt, die am allermeisten Vertrauen brauchen: Liebe und Sex. Das funktioniert natürlich nicht. "Hin und weg" (Sony Music) ist ein stinklangweiliges Schlager-R&B-Album mit überwiegend deutschen Duseltexten, die beim ersten Hören bewusst unprovokant erscheinen. In "Anmut" besingt Xavier Naidoo zu einem spärlichen Neunzigerjahre-R&B-Groove die Grazie einer Frau, die eine Krone trägt, und er tritt in ihr Leben "wie in eine Kathedrale". Hallelujah. In "Aufgeregt" ist er schon weiter - zu sanft hingetupften Synthie-Akkorden heißt es da: "Wer weiß, was heute noch entsteht, ein erster Same ist gesät." Hier interessieren wirklich nur diejenigen Momente, in denen man meint, doch etwas Demokratiefeindliches heraushören zu können. Wie etwa im Eröffnungs-Stück "Alle meine Sinne". Da liegt ein gewisser Trotz in Naidoos Stimme (aufgrund der vielen Schelte, die er medial bekam?), und die Kombination der Zeilen "Hier ist etwas Furchtbares passiert" und "Wenn du hier bleibst, wirst du mich verlieren" verleitet zu Überlegungen wie: Wo ist hier, und wer ist du? Deutschland? Merkel muss weg, sonst geht Xavier? Falls hier tatsächlich die Hundepfeife schrillt und "Alle meine Sinne" so etwas wie eine Gesinnungs-Emo-Hymne für Reichsbürger ist - man könnte mit Tocotronic antworten: Aber hier leben, nein danke.

Jan Kedves

© SZ.de/qli
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