Alben der Woche:Warm und tief und weich - und dabei auch männlich

Wenn man noch in diesen Kategorien denken will: unbedingt Jungstötter hören. Ansonsten hat Conor Oberst mal wieder ein neues Projekt und Cherry Glazerr rettet die Rockmusik weiter.

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Lee Gamble - "In A Paraventral Scale" (Hyperdub)

Lee Gamble

Quelle: Hyperdub

Lee Gamble ist ein Produzent elektronischer Musik aus dem britischen Birmingham. Dieser Satz ist inhaltlich völlig richtig und fasst trotzdem zu kurz. Denn eigentlich ist Gamble ein moderner Komponist. In seinen atmosphärischen Arbeiten verschmelzen Clubkultur und Konzeptkunst. "In A Paraventral Scale" (Hyperdub) heißt Gambles neue EP, die erste von drei, die zusammen das Album "Flush Real Pharynx" bilden werden. Es ist eine akustische Dokumentation dessen, was Gamble als den "Semioblitz" bezeichnet, die aggressive, sinnliche Reizüberflutung unserer Städte und unserer virtuellen Räume. Klänge und Strukturen morphen hier ineinander, Realität und Fiktion lösen sich auf. In "BMW Shuanghuan X5" schält Gamble aus dem Motorensound eines Autos eine zunächst kaum wahrnehmbare Melodie, bevor "In the Wreck Room" zurück in eine geisterhaft verzerrte Clubnacht führt. Die Gegenwart, sie ist ein unheimlicher Ort.

Julian Dörr

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Jungstötter - "Love Is" (Pias)

Jungstötter

Quelle: Pias

Mit so einer sensationellen Stimme kann man nichts falsch machen. Nichts. Fabian Altstötter singt warm und tief und weich, und dabei auch männlich, wenn man in dieser Kategorie noch denken mag. Die leise Koketterie des jungen Bryan Ferry ließe sich heraushören, oder das sanfte Zittern des Mark Hollis von Talk Talk. Selbst mit Nick Cave wird Altstötter, der als Sänger der Landauer Band Sizarr bekannt wurde, verglichen. So oder so: Alle sollten sich an seiner Stimme erfreuen! Dazu gibt es ausgiebig Gelegenheit auf "Love Is" (Pias), dem Solo-Debüt des 28-Jährigen als Jungstötter (alt ist er ja wirklich noch nicht). Da sind Songs, die mit der Akustischen ein wenig angefolkt klingen, genauso wie Songs, die mit wischendem Snare-Besen und abgenommenem Oberrahmen im Klavier eher angejazzt sind. Immer scheint die Musik aus der Stille heraus gedacht zu sein, aus der Stille zu kommen. Jeder Sound, jedes Echo wurde von Produzent Max Rieger (Die Nerven) so platziert, dass für die Stimme viel Raum bleibt. Das erste Stück heißt denn auch gleich "Silence": "Es herrscht eine Stille in diesem Raum, alle empfinden sie als unangenehm", singt Jungstötter, locker übersetzt. Die Rettung ist dann eben: sein Gesang. Ein bezauberndes Album!

Jan Kedves

3 / 5

Cherry Glazerr - "Stuffed & Ready" (Secretly Canadian)

Cherry Glazerr

Quelle: Secretly Canadian

Clementine Creevy, die Frontfrau von Cherry Glazerr, ist zwar erst 21, veröffentlicht dieser Tage aber schon ihr viertes Album. "Stuffed & Ready" (Secretly Canadian) ist die Nachfolgeplatte zu "Apocalipstick", was für die New York Times 2017 als Beweis dafür galt, dass Frauen gerade die Rockmusik retten. Nun haben wir 2019 und die Gitarre ist noch immer nicht der kalten, toten Männerhand entrissen. Cherry Glazerr aber versuchen ihr Bestes. Dass dieses Beste wirklich sehr, sehr gut ist, liegt vor allem an der Stimme von Sängerin und Gitarristin Creevy. Ihr gelingt der Brückenschlag, gleichzeitig verträumt und bissig zu klingen. Creevy kann ihre Stimme hoch über ihrem Gitarrenspiel schweben lassen und sie im nächsten Takt plötzlich durch ein donnerndes Riff-Gerumpel bugsieren. Überhaupt: Es ist eine Freude, dieser Frau dabei zuzuhören, wie sie die Gitarre, dieses lächerlich phallische Instrument, erst irre ernst nimmt - und dann wieder überhaupt nicht. "Who should I fuck, Daddy, is it you?", heißt es in "Daddi". Es ist keine Frage.

Julian Dörr

4 / 5

Better Oblivion Community Center - "Better Oblivion Community Center" (Dead Oceans)

Better Oblivion Community Center

Quelle: Dead Oceans

Auch nach knapp zwei Jahrzehnten als schwermütiger Unterhaltungskünstler schmeißt keiner so gute Weltschmerz-Partys wie Conor Oberst. Vergangenen Freitag hat er völlig überraschend ein neues Projekt gestartet. Zusammen mit der sehr tollen US-amerikanischen Musikerin Phoebe Bridgers bildet Oberst das Better Oblivion Community Center. Das selbstbetitelte Debütalbum (Dead Oceans) ist nun eine dieser berühmten Oberst'schen Weltschmerz-Partys. Es gibt jede Menge Bier und mal mehr, mal weniger gelenkige Indie-Rock-Songs mit ganz viel Americana-Twang und Country-Schmacht, aber irgendwann hängen doch alle ein bisschen schief und angeschlagen seufzend am Tresen: dieser bedeutungslose Job, die Flüchtlinge in den Nachrichten - am liebsten würde man wie Dylan Thomas auf dem Boden der Bar krepieren. Seltsam, dass Oberst bei diesem chronischen Weltschmerz-Lamento noch nicht taub geworden ist. Als Zuhörer ist man über die Jahre etwas abgestumpft. Bis doch wieder so ein Moment direkt ins kalte Herz stößt: "I know a girl who owns a boutique in the city/ Selling clothes to the fashionably late/ Says she cries at the news but doesn't really/ Cause it's too much fun, it's too much time and too much plastic money to be made". Bridgers sanfter Drang verschmilzt mit Obersts zögerlichem Nölen und beinahe scheint die Welt gut. Beinahe.

Julian Dörr

5 / 5

Beirut - "Gallipoli" (4AD)

Beirut

Quelle: 4AD

Zach Condon war einmal ein richtiger Indie-Traumtyp. Dieser sanfte, intellektuelle Kerl, der lieber durch Osteuropa reiste, statt die Highschool im heimischen Santa Fe, New Mexico, abzuschließen. Unter dem Namen Beirut veröffentlichte Condon Alben wie "Gulag Orkestar" und "The Flying Club Cup", er brachte Balkan-Pop aus "Bratislava" mit, flanierte zu französischen Chansons durch die Straßen von "Nantes", schrieb Songs über den "Prenzlauerberg" (sic!), das "Rhineland (Heartland)" und klaute das Cover-Foto seines Debütalbums aus einer Bibliothek in Leipzig. In dieser Woche veröffentlicht Condon sein fünftes Album "Gallipoli" (4AD). Wohlgemerkt, Gallipoli im italienischen Apulien - nicht die türkische Halbinsel mit der berühmten Schlacht im Ersten Weltkrieg. Warum nun diese lange Ausführung? Um letztgültig zu beweisen, was für eine große Mogelpackung Beirut immer schon war. Auch die Geschichte der neuen Platte liest und erzählt sich wie grenzenlos gedachter, kosmopolitischer Weltpop. Dabei kleistert Beirut seine Songs seit Jahren mit demselben selig-süßlichen Bläsergeschunkel zu. Wir waren nur zu verliebt, um das zu merken.

Julian Dörr

© sz.de/crab/biaz
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