Alben der Woche:Immer tut irgendwem irgendwas weh

Wanda simulieren Tiefgründigkeit, Iggy Pop wird zum Gefäß für andere - und das verschollene Album von Miles Davis ist ein Zeitdokument. Mehr aber auch nicht.

Von den SZ-Popkritikern

1 / 6

Iggy Pop - Free (Caroline International)

Iggy Pop Free

Quelle: Caroline International

Iggy Pop hat Journalisten immer wieder zu fantasievollen Beschreibungen aller möglicher Zustände menschlicher Haut beflügelt. Sein Körper, hieß es, sei "geschmeidig und ledrig, weniger aus Marmor geschnitzt als in Flankensteak gemeißelt". Die "Lederhaut" sei mal von der Sonne verbrannt, mal vom wilden Leben gegerbt. Das liest sich ganz spaßig, führt aber auf die falsche Fährte. Es gibt ja kaum einen Künstler, der es so frisch durch die Jahrzehnte geschafft hat wie Iggy Pop. Sein Lebenswerk ist keines, das sich durch beständige künstlerische Neuerfindung auszeichnete, klar. Aber eben doch eines aus schönen konzentrischen Kreisen, die sich mit den Jahren immer enger um das Zentrum seiner Kunst schlossen. Was uns zu "Free" führt, dem neuen Album, das Iggy Pop zusammen mit dem Jazz-Trompeter Leron Thomas aufgenommen hat. "I wanna be free", raunt er da in die ersten Takte eines verwehten Bläser-Arrangements hinein. Und dann kommt erstmal: nichts. Die Songs auf "Free" mäandern zwischen Free-Jazz und Ambient. In weite Klanglandschaften spricht Pop Gedichte von Lou Reed und Dylan Thomas oder redet über Internetpornografie. Stagediving wäre hier in etwa so angebracht wie bei einer Dichterlesung. Was nun doch nach Neuerfindung klingt, ist Iggy Pop in seiner bislang reinsten Form. "Das ist ein Album, auf dem andere Künstler für mich sprechen, aber ich leihe ihnen meine Stimme", schreibt er in den Liner-Notes. Mit 72 Jahren ist Iggy Pop ganz zum Gefäß geworden. Ein Körper für die Kunst, ein Vehikel für die Musik.

Julian Dörr

2 / 6

Lower Dens - "The Competition" (Ribbon Music)

lower dens

Quelle: Ribbon Music

Die Stimme der Woche gehört Jana Hunter von der US-amerikanischen Band Lower Dens. Zum finster verzerrten Synthbass singt er auf "I Drive": "You could have had me / But you wanted a daughter". Das dazugehörige Album "The Competition" ist zu gleichen Teilen Dokument des persönlichen Kampfes einer Transperson und politisches Statement. Musik als Ausbruch. Aus einer Familie, die einen nicht als den Menschen akzeptiert, der man ist. Aus einem System, das alles auf Leistung und Wettbewerb ausgerichtet hat. Der Soundtrack dazu ist emotional überwältigender Synth-Pop, er flackert von einer Hookline zur nächsten zwischen Hoffnung und Verzweiflung. Oder wie es Lower Dens selbst sagen: Widerstandspop.

Julian Dörr

3 / 6

Kindness - "Something Like A War" (Female Energy)

Kindness

Quelle: Female Energy

Das neue Album von Kindness ist so etwas wie die Vertonung des Konzepts der radical softness, der radikalen Verletzlichkeit. Adam Bainbridge, DJ und Produzent*in mit asiatischen und britischen Wurzeln, hat ein unendlich sanftes Album geschaffen, manches Arrangement ist so filigran, dass man Angst hat, es breche auseinander, sollte man es der sicheren Umgebung eines Kopfhörers entreißen und über Lautsprecher hinaus in die Welt spielen wollen. Hier ein zarter Bläsersatz, da ein halbstummes Gitarrenpicking. Und in der Ferne schüttelt sich ein Schellenkranz. Diese Platte ist entweder die verträumteste Dance-Music oder der tanzbarste Dream-Pop der Saison. Nur eines ist sie nicht: schwach. Womit wir wieder beim Konzept der radical softness sind, dessen Leitspruch der Song "Softness As A Weapon" zitiert: Gefühle zeigen ist eine Stärke.

Julian Dörr

4 / 6

Miles Davis - Rubberband (Rhino)

rubberband

Quelle: Rhino

Als Miles Davis seine Arbeit an dem Album "Rubberband" begann, das jetzt erstmals fertiggestellt wurde und erscheint, fand gerade eine Zeitenwende statt. Mit den damals neuen Schlagzeugcomputern, digitalen Synthesizern und Samplern verwandelten sich die Produzenten von Verwaltern in Regisseure, die mehr musikalische Macht hatten, als je zuvor.

Rückblickend waren der Drumcomputer Roland TR-808 oder das Yamaha Keyboard DX7 so etwas wie musikalische Schulterpolster. Zu dünn, zu ungelenk wirken die Produktionen mit diesen frühen Maschinen heute, ähnlich wie die Special Effects der Kino-Blockbuster jener Zeit. Weswegen "Rubberband" im Gesamtwerk von Miles Davis noch stärker verblasst, als die meisten seiner schwierigen Platten aus den Achtzigerjahren.

"Rubberband" sollte Miles Davis Durchbruch als Superstar werden. Junge Musiker auf der Höhe der Zeit wurden ins Studio geholt, berühmte Sänger sollten singen, was in der nachbearbeiteten Fassung nun nicht ganz so berühmte Sänger tun. Für Miles Davis war das weniger der Drang nach noch mehr Ruhm und Reichtum. Hatte er beides schon reichlich. Ihn interessierte der Zeitgeist und der fand sich damals auf der Straße, auf der sich Hip-Hop und New Jack Swing etablierten. Ähnlich wie auf seinen anderen Alben dieser Zeit bleibt seine Trompete ein Fremdkörper. Fast unsicher sucht er im viel zu mathematischen Raster der Musik den Weg für den Strahl seines Instruments. Beherrschte er den Funk-Brutalismus seiner Siebzigerjahre-Bands noch souverän von oben, so scheint er da die Kontrolle zu verlieren über eine musikalische Entwicklung, die er verstehen, aber nicht beherrschen konnte. So bleibt "Rubberband" ein Zeitdokument. Eine Wissenslücke schließt sich da nicht.

Andrian Kreye

5 / 6

Mahalia - "Love And Compromise" (Atlantic)

Mahalia

Quelle: Atlantic

Das Debütalbum der R&B-Sängerin Mahalia ist eine gelungene Meditation über den ganzen hustle mit der Liebe, von Anfang bis Ende, von der stürmischen Verliebtheit bis zur Eifersucht, mit vielen "missed calls", ignorierten SMSen und dem üblichen Sich-gegenseitig-zappeln-Lassen. "Love And Compromise" - den Titel hat sich die 21-Jährige Britin aus Leicester aus einem Youtube-Video stibitzt, das zum viralen Hit wurde, weil die legendäre Sängerin Eartha Kitt darin so wunderbar klarsichtig und zugleich derangiert darüber sinniert, was für ein absurder Gedanke es doch sei, für die Liebe Kompromisse einzugehen - "for what!?" ("Eartha Kitt on love and compromise"). Mahalia hat eine angenehm soulige Stimme, die zu jazzigen Broken-Beats ("Richie") genauso passt wie zu Gitarren-R&B, der fast schon in Richtung Ed Sheeran winkt (hier aber nicht weiter schlimm). Am offensichtlichsten auf die Charts schielt der gut gekühlte Dancehall-Groove der Single "Simmer", ein Duett mit dem nigerianischen Superstar Burna Boy. Wenn sie so weitermacht, könnte Mahalia noch eine ganz Große im R&B werden.

Jan Kedves

6 / 6

Wanda - "Ciao!" (Universal)

-

Quelle: Alexander Bachmayer

Um sich dem neuen Album der österreichischen Band Wanda anzunähern, hilft simple Mathematik. "Ciao!" ist ihre vierte Platte in fünf Jahren. Das wäre selbst für eine innovative Band eine ganz schöne Verausgabung. Um den Output zu stemmen, haben sich Wanda entschlossen, fortan Attrappen zu produzieren. Und wenn man nicht genau hinhört, dann klingt "Ciao!" beinahe wie ein echtes Album. Die Gitarren winden sich in Delay-Effekten, es gibt ein bisschen Psychedelic für Einsteiger ("Vielleicht") und Sänger Wanda dehnt die Silben bis kurz vor den Stimmbandriss. "Nix kann man repariaaaarrrhhhhn". Ihre Songattrappen hat die Band nach den Blaupausen der Beatles gebaut, die sind massentauglich und industrieerprobt. Auch textlich wird sehr professionell Tiefgründigkeit vorgetäuscht. In den Songs von "Ciao!" geht es ganz oft um das Letzte ("Ein schneller Tod", "Nach Hause gehen") oder das Erste ("Der Erste, der aufwacht", "Das Erste, an was ich denk"). Diese Bilder funktionieren gut, um ein Gefühl von ultradringlicher Sehnsucht hervorzurufen. Man darf nur nicht den Fehler machen, allzu genau hinzuhören. Denn dann fallen die Songattrappen in einem einzigen lang gezogenen Vokal zusammen, und es bleibt nichts als die Erkenntnis, dass irgendwem immer irgendwas weeeeeeeh tut.

Julian Dörr

© SZ.de/qli
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: