Alben der Woche:Fahrstuhlmusik für Pinguine auf dem letzten Eisberg

Morrissey frönt einer Art kalifornischem Biedermeier, Flying Lotus funkt Signale aus der Vergangenheit und Amyl and the Sniffers sind sehr, sehr wütend.

Von den SZ-Popkritikern

1 / 5

Flying Lotus - "Flamagra" (Warp)

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Quelle: Warp

Die Leitidee für das neue Album "Flamagra" (Warp) von Flying Lotus war eine Flamme auf einem Hügel. Dann hörte der Musiker David Lynch auf einer Party etwas erzählen - und diese Worte wurden zum Keim des Albums. Flying Lotus, bürgerlich Steven Ellison, ist als Großneffe von Alice Coltrane und der Enkelin einer Motown-Songwriterin wohl unbestreitbar Teil des schwarzen Musik-Adels. Adel verpflichtet bekanntlich, ebenso wie das musikalische Erbe von Jazz über Soul bis Hip-Hop. Flying Lotus' Kompositionen scheinen von dieser Verpflichtung durchdrungen, aber nie beschwert. Für ihn ist sie ein hyperaktives Spiel. Da können schon mal ein halbes Dutzend Genres innerhalb eines Song gewürdigt werden, bevor sie in sphärisch zerfließen. "Fire Is Coming" heißt der Song, dessen Vocals Lynch eingesprochen hat. Auch sonst gibt es viele illustre Gäste: Anderson Paak, Little Dragon oder Solange. Die Musik ist mal Vaporwave-Jazz, mal Elektro-Frickel-Rap. Verzerrte Disco-Drums, allerhand fein arrangiertes Knacken und Synthies, warm, körperlos und melancholisch wie ein Internetlagerfeuer. Das Album umfasst 27 Klangkapitel, manche nur wenig mehr als eine Minute lang, andere ausgewachsene Songs. Starke Signale aus der Vergangenheit an die unübersichtliche Gegenwart - und umgekehrt.

Juliane Liebert

2 / 5

Morrissey - "California Son" (Warner)

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Quelle: AP

Der große Melancholiker Morrissey hat ein Album mit zwölf Coverversionen aufgenommen: "California Son" (Warner). Er singt Bob Dylan und Joni Mitchell, Carly Simon und Dionne Warwick, Roy Orbison und Melanie. Das ist weniger Tribut an Vorbilder, als ein sehr persönlicher Kanon. Er präsentiert ihn auf seiner aktuellen Tour sehr viel ausführlicher als Videoblock vor den Konzerten. Da kommen dann auch James Baldwin, die Filme der Nouvelle Vague und Chrissie Hynde dazu. Nachdem er gerade 60 geworden ist und auch schon ein Broadway-Gastspiel absolviert hat, könnte man das als Beginn des Alterswerks interpretieren. Auf der anderen Seite eiert er schon seit Jahren zwischen seinem Status als Rebell und seinen Ansichten als latent Rechtsradikaler herum. Vielleicht ist die neue Konzentration auf Protest- und Wohlfühlmusik aus den Sechziger- und Siebzigerjahren also auch nur eine Art kalifornischer Biedermeier, Flucht ins Private. Musikalisch geht Morrissey auf dem Album allerdings durchaus Risiken ein. Er erlaubt sich zum Beispiel, an Roy Orbison zu scheitern, bringt dann aber Phil Ochs zu neuen Ehren und Höhen. Andererseits hat ein erster Plattenladen Morrisseys Gesamtwerk schon aus den Regalen genommen, weil der bei einem Auftritt in der Late-Night-Show von Jimmy Fallon zwar nichts Politisches gesagt, aber eine Anstecknadel der rechtsradikalen Splitterpartei "For Britain" getragen hatte. Es war im Übrigen nicht irgendein Plattenladen, sondern Spillers Records in Cardiff, der älteste noch existierende Plattenladen der Welt.

Andrian Kreye

3 / 5

Andreas Spechtl: "Strategies" (Bureau B)

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Quelle: Label

Der Sänger und Songwriter Andreas Spechtl, bekannt von Ja, Panik und Die Türen veröffentlicht diesen Freitag sein Album "Strategies" (Bureau B). Es beginnt mit Holzbläsern, Quietschen wie von Walgesängen, ins Zittern auslaufenden Hallflächen. Bis dann doch noch aus allerhand Geschnatter von einem Bass ein rumpeliger Beat eingeleitet wird und der "Opening" heißende Eröffnungssong einen kurzen Rhythmusanfall mit Klatschen bekommt, bis er wieder in Walgesängen verebbt. Im zweiten Song dann Post-Punk-Kargheit, Stück für Stück mit Farbsprengseln aus dem Akustiklabor koloriert, während der Beat weiterhin stoisch klappert, bis unvermittelt eine dramatische Unterbrechung dazwischengeschaltet wird, mit Sonnenlicht aus summenden Synthesizern. Der letzte Song des Albums, "Structures", ist eigentlich mindestens fünf Songs in einem. Zwischendurch knirscht und knuspert es sehr munter, Fahrstuhlmusik für Pinguine auf dem letzten Eisberg. Endzeittanzmusik für abstrakte Romantiker, die zwar ziemlich schwarz sehen, aber in der Misere doch irgendwie noch an die Erlösung der Welt aus dem Geist von Adorno und Ian Curtis glauben.

Juliane Liebert

4 / 5

Amyl and the Sniffers: "Amyl and the Sniffers"

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Quelle: Ato Records

Guter altmodischer Siebziger-Punkrock-Spaß. Genau abgehört bei Stooges, Sex Pistols, Slits, Ramones, zackig, rotzig, kein Song länger als drei Minuten und Sängerin Amy Taylor ist schon sehr gut wütend. Einerseits. Andererseits irgendwie auch Musik für Punkrock-Motto-Partys.

Maximilian Senff

5 / 5

Sebadoh: "Act Surprised" (Fire Records)

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Quelle: Fire Records

Sebadoh sind ein Nebenprojekt des Dinosaur-Jr.-Bassisten Lou Barlow. Der Klang ist ausgefeilter als auf den klassischen frühen Alben, weniger blechern. Aber deshalb keineswegs sauber. Die Songstrukturen sind übersichtlicher, durchkomponierter. "Act Surprised" (Fire Records) vereint 15 lärmige Indiepunkstücke von solider Qualität, die keine musikalische Handwerkskammer als Meisterstück zurückweisen könnte. Leider bedeutet der Begriff Indie nichts mehr. Was der Musik Unrecht tut, wenn man sich die Indie-Originale aus den späten Achtzigern oder frühen Neunzigern anhört - das ganze hochbegabte schmutzige DIY-Soundgebastel, aus dem dann auch Grunge spross. Das neue Sebadoh-Album trägt diesen Geist weiter und gibt einen Eindruck davon, was an dieser Musik noch immer toll ist.

Juliane Liebert

© SZ vom 22.05.2019/tmh
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