Alben der Woche:Schmirgelpapier-Geshoute trifft monotones Gemurmel

Casper und Marteria haben ein gemeinsames Album aufgenommen. Das geht überraschend gut zusammen. Außerdem: Troye Sivan beweist, dass er mehr ist als ein hübscherer, schwuler Justin Bieber.

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Big Red Machine - "Big Red Machine" (People/Jagjaguwar)

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Quelle: AP

Die Mitte und vor allem das Maß sind ja bekanntlich gesund, haben aber eine gefährliche Nebenwirkung: brutale Langeweile. Wenn es nun vom selbstbetitelten Debütalbum (People/Jagjaguwar) des Kollaborationsprojektes Big Red Machine heißt, es stünde genau in der Mitte und fände die perfekte Balance zwischen seinen beiden Partnern Justin Vernon und Aaron Dessner, dann ist das genau nicht so gemeint. Vernon und Dessner, besser bekannt als der Pop-Avantgardist Bon Iver und der Gitarrist und Songschreiber von The National, ist eine der spannendsten Platten des Jahres gelungen. Big Red Machine, das ist die gleiche knisternde Versatzstückmusik wie im Hauptwerk von Bon Iver, irgendwo zwischen Phil Collins und Holzfällerhütte. Nur dass Dessner den oft flüchtigen und körperlosen Vernon erdet. Weshalb aus Mitte der großen Jam-Session Big Red Machine eine zutiefst erfüllende Wärme strahlt. Wie bei "Hymnostic", wo sich aus Schlagzeuggeklapper und Elektronikgefiepe eine Gospelhymne herausschält. Musik, so offen, dass man hinter jeder Note und hinter jedem Ton seine Gedanken, Emotionen und Erfahrungen einhakt, sich reinfühlt und wieder rausdenkt. Pop als Geisteshaltung, nicht als Produkt.

Julian Dörr

2 / 7

Anna Calvi - "Hunter" (Domino)

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Quelle: SZ

Die britische Songwriterin und Sängerin Anna Calvi beherrscht den schroffen Gitarren-Sound genauso wie die melodiöse Lieblichkeit. Auf ihrem tollen dritten Album "Hunter" (Domino) treibt die 37-Jährige den Mix noch auf die Spitze, indem sie textlich Männlichkeit und Weiblichkeit verhandelt - und dass beides ja eben kein Widerspruch sein muss. "I'm an alpha / I divide and conquer", singt sie im Song "Alpha" zu beinahe an Phil Spector erinnernden Hall-Sound. Die Dynamik reicht dabei von "sanft ins Ohr gehaucht" bis schrill, verzerrt, kakofonisch. Da drängt sich das sonst viel zu abgedroschene Bild von der emotionalen Achterbahnfahrt auf. Es passt hier wirklich. Auch in "Don't Beat the Girl Out of My Boy": Wie dieser Song nach seinem "Tüdeldü"-Intro rasch eine Härte bekommt und zwischendurch dann immer wieder hoch oben in der Luft hängen bleibt, um dann mit vollem Karacho wieder in den Keller zu rumsen - das ist einfach toll!

Jan Kedves

3 / 7

Samy Deluxe - "SaMTV Unplugged" (Vertigo Berlin)

Samy Deluxe - SaMTV Unplugged

Quelle: Vertigo Berlin

Die ganze Wiedersehenskiste lohnt sich ja allein schon wegen "Adriano". Zu den auf ewig wunderbarsten Dingen an Popmusik gehört schließlich, dass sie sich, fast egal wie alt, fast egal wie mürbegespult, sofort wieder mit fausthiebwuchtiger Instant-Bedeutung aufladen kann. Und in Tagen wie diesen, in denen mehrere Tausend Rechtsextreme auf deutschen Straßen Jagd auf angeblich "ausländische" Menschen machen, kriecht die Kampfansage an jede Form von Rassismus ("Was wir reichen sind geballte Fäuste, keine Hände") sofort stahlkalt die Wirbelsäule nach oben. Und schickt, oben angekommen, kleine, schaurige Fieberschübe ins Gehirn. Das ist groß! Und sehr, sehr relevant. Davon abgesehen ist, das Album wäre sonst ja auch eine Themaverfehlung, nichts neu auf "SaMTV Unplugged" (Vertigo Berlin). Aber sehr viel gut gealtert. Samy Deluxe, der ja irgendwie auch auf ewig quasi-beste deutschsprachige MC, rappt in der auf akustischen Instrumenten umgesetzten Werkschau seinen eigenen Wikipedia-Eintrag herunter, muss ansonsten niemandem mehr etwas beweisen und tut es genau damit natürlich. Alle paar Songs tauchen Kollegen auf, die auf ihre eigene Art ähnlich gut sind (Stieber Twins, Beginner, Curse, Max Herre, Torch, Xavier Naidoo - um nur die älteren zu nennen). Die Band groovt wie Sau. Alles trägt Sepiafilter. Und ungefähr bei der Hälfte der 34 (in Worten vierunddreißig) Songs will der Gastgeber wissen: "Warum müssen alle immer mich haten - obwohl ich so gut rappe?!" Ganz gute Frage eigentlich.

Jakob Biazza

4 / 7

Marteria & Casper - "1982" (Zwei Bernds tanken Super)

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Quelle: SZ

Man ist ja froh, wenn zwei Rapper sich auch mal verstehen. Battle-Rap ist eine Kunstform für sich und gehört zum Rap dazu. Erfrischend ist es aber doch, wenn ein Rapper-Paar sich auch mal verträgt. Hier sind es Marteria & Casper, die diese Woche ihr gemeinsames Album "1982" (Zwei Bernds tanken Super) veröffentlichen. "1982" heißt es, weil Benjamin Griffey (Casper) und Marten Laciny (Marteria) im selben Jahr geboren sind. Sie sind jetzt also in einem Alter, in dem nicht nur Rap-Stars, sondern allgemein Männer gern zurückzublicken und die Jugend ein wenig verklären. Wobei auf "1982" zunächst einmal auffällt, dass die Erinnerungen der beiden gar nicht so unterschiedlich ausfallen, auch wenn Marteria im Osten (Rostock) groß wurde und Casper im Westen (u.a. Bielefeld). Man trifft sich im Zweifel halt auf der WG-Party: "Es wird Zeit für einen Absturz / Leben ohne Sünde macht so kraftlos" rappen sie in "Absturz", weil: Irgendwie war es ja schon toll, dass man früher samstagsnachts einfach irgendwo crashte und sonntags dann verkatert im Waschsalon herumhing, weil man sich noch keine eigene Waschmaschine leisten konnte. Musikalisch wird dazu gern auf die Neunzigerjahre zurückgegriffen. Zum Beispiel brechen in den düsteren Südstaaten-Sound von "Adrenalin" immer wieder gesampelte Happy-Hardcore-Breakbeats rein, so wie 1992 bei The Prodigy ("Out of Space"). Erst denkt man, das passe nicht. So wie man auch denken könnte, dass Caspers Schmirgelpapier-Geshoute und Marterias monotones Gemurmel nicht harmonieren. Aber siehe da: Es geht doch alles gut zusammen.

Jan Kedves

5 / 7

The Kooks - "Let's Go Sunshine" (Lonely Cat)

The Kooks

Quelle: Lonely Cat

Als The Kooks im Jahr 2006 mit ihrem Debütalbum "Inside In/Inside Out" in die damals sehr frische und sehr kreative adoleszente Gitarrenmusikszene Großbritanniens stolperten, gelang ihnen der gerade im Indie-Pop doch eher seltene Doppelschlag, gleichzeitig einen Instant-Klassiker zu schaffen und ein Instant-Sellout zu werden. Songs wie "Naive", "Ooh la" oder der "Sofa Song" waren genau das: naive Ooh-la-Hymnen von der Jugendzimmercouch, die sich fünf Millionen Mal verkauften. Wenig Grund also für The Kooks, ihr Erfolgsrezept über die Jahre zu verändern. Sicher, die Songs vom neuen Album "Let's Go Sunshine" (Lonely Cat) nehmen mehr Raum ein, die Produktion ist größer angelegt. Aber immer noch schrauben sich von einer Midtempo-Akustikgitarre angeschrammelte Alltagsbeobachtungen hinauf zu Power-Refrains, wo große Gitarrenriffs und große Worte von Oh-oh-oh-Chören in die Welt getragen werden: "I want you. To. Be. There. All the time". Nun gut. Das sind keine Melodien für Millionen, für Oasis-Grandeur reicht es nicht. Für mittelgroße Hallen und ein paar selige Seufzer hingegen schon. "We're just having a good time, honey" heißt es im ersten und letzten Song dieser Platte. Ein böser Mensch, wer das naiv nennt.

Julian Dörr

6 / 7

Sophie Hunger - "Molecules" (Caroline International)

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Quelle: SZ

Sophie Hunger schlägt gerade viele Haken. Fans werden die Schweizer Songwriterin und Sängerin wohl kaum wiedererkennen, die Musik auf ihrem neuen Album "Molecules" (Caroline International) klingt nämlich synthetisch, elektronisch, clubmäßig, was aber überzeugt. Dazu sagt Hunger, ihr sechstes Studioalbum sei ihr erstes rein englischsprachiges - nachdem sie auf den Vorgängern ja immer gern Englisch, Französisch, Deutsch und Schwiizerdütsch auf sehr idiosynkratische Weise gemixt hatte. In "Cou Cou" singt sie dann aber doch wieder Französisch, "je me souviens de tout", ich erinnere mich an alles. Angeschmiert?! Auf Tour geht es mit dem Hakenschlagen gleich weiter: Im September wird Hunger in vier deutschen Städten spielen, wobei sie auch durch diese vier Städte touren wird. Wie? Sie gastiert einige Abende hintereinander in derselben Stadt, spielt aber jedes Konzert in einem anderen Club. Hat das schon einmal jemand so gemacht? Irgendwie geht es im Pop ja doch immer noch mal auf neue Weise rund.

Jan Kedves

7 / 7

Troye Sivan - "Bloom" (EMI)

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Quelle: SZ

Es lässt sich kaum oft genug betonen, was für ein eleganter, schöner und dezenter Pop-Hit "Dance To This" ist, das Duett, das Troye Sivan gerade mit Ariana Grande singt. Die steht in dieser Woche mit ihrem neuen Album "Sweetener" in den USA auf Platz eins der Charts. Und weil sie längst ist, was Sivan gerade wird, also ein Riesenstar, zählt das "Dance To This"-Video auch schon 53 Millionen Klicks auf Youtube. Der Song gehört zu "Bloom" (EMI), dem neuen Album des 23-jährigen Australiers, den man musikalisch bislang unterschätzt hat. Anfangs schien es ja, als wolle er einfach so etwas werden wie ein hübscherer, schwuler Justin Bieber. Inzwischen ist er zu einer richtigen Pop-Künstler-Persönlichkeit gereift. Sivan singt Songs über schwule sexuelle Erweckung und Defloration mit einem Charme und Stolz, dass man nie auf die Idee käme, daran irgendetwas nicht selbstverständlich zu finden. Neben "Dance To This" ist "My My My!" vielleicht der schönste Song auf diesem Album: hymnischster Blauer-Himmel-Pop über die Sinnlosigkeit, vor der Liebe davonlaufen zu wollen.

Jan Kedves

© SZ vom 29.08.18/SZ.de/doer
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