Alben der Woche:Wie durch ein pastellfarbenes Donut-Wurmloch ins Jahr 2019 geflutscht

Peggy Gou liefert Sommerhits, Gus Dapperton sieht aus wie ein verlorengegangenes *NSYNC-Mitglied, schreibt aber fantastische Musik. Und die O'Jays verabschieden sich tragisch.

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Field Medic: "Fade Into The Dawn" (Run For Cover Records)

Field Medic: „Fade Into The Dawn“ (Run For Cover Records)

Quelle: Run For Cover Records

Der 27-jährige amerikanische Sänger und Songwriter Kevin Patrick Sullivan macht auf seinem neuen Album "Fade Into The Dawn" (Run For Cover Records) als Field Medic feinen Lo-Fi-Folk mit freundlich selbstironischem Verlierer-Ennui. Alles klingt also, als sei es im Halbschlaf mit letzter Kraft aus dem Ärmel aufs Band geschrammelt worden. Lovesongs heißen "The Bottle's My Lover, She's Just My Friend" und im "I Used 2 Be Romantic" lautet die Bilanz: "I need a cigarette / Those fuckers talked over my whole set / But I don't have any time to reflect / I gotta sell some shirts to try and make the rent." Formvollendet saftlos.

Jens-Christian Rabe

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Gus Dapperton - "Where Polly People Go To Read" (Awal Recordings)

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Quelle: SZ

Wenn es im Pop um das Bestaunen von Newcomern geht, stellt sich oft die Frage: Soll man erst mal ihre Musik auf sich wirken lassen, oder soll man auf Stil, Klamotten, Frisuren achten? Beides gehört zusammen, und doch kann es eine Herausforderung sein, beim Erstkontakt alles auf einmal verdauen zu wollen. Wie bei Gus Dapperton. Der 22-jährige Sänger aus der Kleinstadt Warwick im Bundesstaat New York sieht aus wie das sechste, irgendwann verlorengegangene Mitglied der Boygroup *NSYNC, das dann durch ein riesiges, pastellfarbenes Donut-Wurmloch ins Jahr 2019 geflutscht ist, um hier mit Topfschnitt und sehr peinlichen Musikvideo-Dance-Bewegungen ganz alleine weiterzumachen, als One-Man-Boygroup sozusagen. Dazu passt aber dann Dappertons Sound kaum: Er spielt hauchzarten Lo-Fi-Dreampop, der mehr die Siebziger und Achtziger wachruft als die Boygroup-Neunziger. Wenn Beats dabei sind, klingen sie schepperig dünn, so wie aus einem Fisher-Price-Spielzeug, das im Kinderzimmer noch unterm Bett lag. Ja, Dapperton tut insgesamt sehr viel, um davon abzulenken, dass er in Wahrheit vor allem eines ist: ein begnadeter Songwriter. Zum Beispiel beschreibt er in "World Class Cinema", wie sich das anfühlt, wenn man weiß, dass man ein weltberühmter Hollywood-Star ist, nur die Welt hat es noch nicht kapiert. Hymnen auf die Hybris von einem Supernerd im irritierenden Retro-MTV-Look: "Where Polly People Go To Read" (Awal Recordings) ist wirklich das schönste Debütalbum der Woche.

Jan Kedves

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Pivot Gang "You Can't Sit With Us" (Pivot Gang Records)

Pivot Gang „You Can’t Sit With Us“ (Pivot Gang Records)

Quelle: Pivot Gang Records

Das Chicagoer Hip-Hop-Kollektiv Pivot Gang um die Brüder Tahj Malik Chandler alias Saba und Jerrel Chandler alias Joseph Chilliams kommt aus dem Kreis um die ebenfalls aus Chicago stammenden Indie-Rap-Stars Chance The Rapper und Noname. Anders als die düsteren, so nervös-avangardistischen wie oft grotesk protzigen Trap-Rap-Gewitter, die in den USA zur Zeit den Hip-Hop dominieren, sehen sie sich auf ihrem Debütalbum "You Can't Sit With Us" (Pivot Gang Records) in der Tradition des so supersmarten wie tiefenentspannten Jazz-Rap und Neo-Soul der Neunziger von J Dilla, Erykah Badu oder A Tribe Called Quest. Mit anderen Worten: Auch bei der Pivot Gang zischelt - wie etwa in "Bad Boys" oder "Jason Statham, Pt. 2" - die Hi-Hat hier und da gewaltig, aber am Puls der Zeit bekommt man hier kein Kammerflimmern. Es wird einem eher schön warm ums Herz.

Jens-Christian Rabe

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Peggy Gou - "Moment EP" (Gudu Records)

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Quelle: SZ

Spätestens seit die koreanische Boygroup BTS von Teenagern weltweit bekreischt wird, staunt man im Pop nicht schlecht darüber, wie in Korea mit eisern gemanagter Disziplin und großem Willen zum Erfolg an Hits gearbeitet wird. Ein Pendant dazu gibt es auch in der gar nicht mehr so untergrundigen Welt der elektronischen Clubmusik: Die Koreanerin Peggy Gou hat in den vergangenen zwei Jahren einen Aufstieg hingelegt, wie man ihn so noch nicht erlebt hat. Sie legt auf den größten Festivals auf, hat diverse Werbeverträge mit Modelabels und Autoherstellern, und ja, sie lässt andere DJ-Stars faul aussehen. Ihre Präzision ist strategisch, aber der Spaß, mit dem die in Berlin lebende DJ auflegt, steckt an. Ein Debütalbum steht noch aus, aber in dieser Woche lässt Gou auf ihren Club-Hit aus dem vergangenen Jahr, "It Makes You Forget (Itgehane)", ihre neue "Moment EP" (Gudu Records) folgen: "Starry Night" ist ein poppiger Chicago-House-Track, der im Sommer auf Festivals garantiert zum Hit wird. Und "Han Gan" bezirzt mit einem flockigen Marimba-Motiv und Gous rauchiger Stimme, die man nicht versteht, weil sie auf Koreanisch singt - aber bei Clubhits ist es nie schlecht, wenn sie ein wenig rätselhaft bleiben.

Jan Kedves

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The O'Jays - "The Last Word" (BMG)

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Quelle: SZ

Und zum Schluss noch ein bewegender Abschied: Ganze 61 Jahre lang haben es The O'Jays im Musikgeschäft ausgehalten. Unvergessen sind ihre Philly-Soul-Hits aus den Siebzigern, die mit dem legendären Songschreiber- und Produzenten-Duo Kenny Gamble und Leon Huff entstanden: "Love Train", "I Love Music", "Now That We Found Love". Gegründet haben sie sich 1958 in Canton, Ohio, Ende März starb einer ihrer Mitgründer, Bill Isles, im Alter von 78 Jahren an Krebs. Nun veröffentlichen die R&B- und Soul-Legenden mit "The Last Word" (BMG) ihr letztes Album. Auf ihm zeigen sie sich zu düster-rockigem Funk pessimistisch, was die Zukunft der USA angeht ("Above The Law"). Himmlisch beschwingt ist dann der Disco-Funk in "Enjoy Yourself". "Move your feet like oh-oh-oh, swing your hips like uh-uh-uh", falsettieren die Herren ohne jede Peinlichkeit, dazu gibt es eine Anspielung auf Bob Marleys "Is This Love". Auch das Cover ihres eigenen Songs "I'll Be Sweeter Tomorrow (Than I Was Today)" von 1967 ist sehr ergreifend. Vielen Dank für die Musik!

Jan Kedves

© SZ vom 17.04.2019/biaz
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