Alben der Woche:Fleischwurst ist auch noch aus

Es erhärtet sich der Verdacht, dass Helge Schneider der größte Melancholiker des Landes ist. "Die Orsons" erkunden eine Leerstelle des Deutschrap und "Volbeat" spielen Volkswagen-Rock.

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Orsons - "Orsons Island" (Chimperator/Vertigo)

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Quelle: SZ

Was würde Mozart wohl zu Deutschrap sagen? Fände er Streaming-Algorithmen standesgemäß? Und Auto-Tune cool? Derlei Gedankenexperimente gibt es auf "Orsons Island" (Chimperator/Vertigo), dem neuen Album der vier Rapper, die sich unter dem Namen Die Orsons zu einer Art Hip-Hop-Boygroup zusammengetan haben und mit ihrem ironischen, enorm unterhaltsamen Stil seit Jahren eine Leerstelle des Deutschraps erkunden - nämlich zwischen Fun und Ernsthaftigkeit, zwischen Old-School- und Gangsterrap, Popmusik und Trap, zwischen smartem Wortwitz, intimer Selbstbeobachtung und Zweifel als Grundmodus. Meistens treffen ihre Tracks mit erstaunlicher Zielsicherheit die goldene Mitte. Wenn sie nun also in "Dear Mozart" den "verehrtesten Wolfgang" postum befragen, dann geht es nicht nur um die musikalische Legitimität von Computer-Beats, sondern auch um "Autotune unrelated topics" wie das Selbstverständnis der Szene oder die politische Großwetterlage (Rechtsruck, Bürgerkrieg in Syrien, Strache auf Ibiza): "Diese Na... - ach, was sag ich, Nazis? Wolfgang, du weißt ja nicht einmal, wer Hitler war." Und da sind wir erst in der ersten von vier Phasen, die das Album durchläuft: "Kapitel 1: Virtuelle Realität - ewig schon wach". Auf Party und Zeitgeist folgt der Abgrund am Morgen danach, drittens Aufbruchsstimmung und schließlich ein paar (wie immer natürlich nicht einfache) Antworten. Dazu gibt es nebelverhangene Synthie-Flächen, vibrierende Basslines und reichlich Tempowechsel.

Annett Scheffel

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Clairo - "Immunity" (Caroline)

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Quelle: SZ

Der Schlafzimmer-Pop für das Jahr 2019 kommt von einer jungen Amerikanerin: Auf ihrem Debütalbum "Immunity" (Caroline) spielt und singt Clairo einen charmant zwischen Lustlosigkeit und Intimität oszillierenden Lo-Fi-Pop. Bekannt geworden ist die 20-Jährige 2017 mit einen Youtube-Hit: Der wunderbar dilettantische Webcam-Clip, in dem sie mit selbstverlorenem Blick und Kopfhörern in den Ohren ihren Song "Pretty Girl" runterträllert, zählt mittlerweile mehr als 36 Millionen Aufrufe auf Youtube. Das Geheimnis von Clairos immer melodischen, aber vage und vernebelt wirkenden Pop-Miniaturen ist das Nebeneinander von Alltäglichkeiten (runtergeschluckte Kaugummis, "Flaming hot Cheetos") und den zwischenmenschlichen Frustrationen eines Teenagers. Dass auf Albumlänge der Versuch glückt, Sounds aus dem Post-Internet-Fundus einzubauen (Trap-Beats, verschlissene Synthesizer, Stimmverzerrung), bringt Clairo in Stellung: als Indie-Pop-meets-Mainstream-Star einer neuen Dekade.

Annett Scheffel

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Nérija -"Blume" (Domino)

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Quelle: SZ

Erinnert sich eigentlich noch jemand, wann es zuletzt eine so vibrierende lokale Jazzszene gab wie derzeit in London? Muss irgendwann in den Siebzigern gewesen sein. Nun gibt es alle paar Monate neue aufregende Platten, die zudem in einem breiteren, popmusikalischen Kontext Beachtung finden. Dazu gehört auch Nérija, ein Septett, das auf seinem Debüt "Blume" (Domino) mit derart furiosen, agilen Jazzkompositionen aufspielt, dass es nahezu unmöglich ist, nicht mindestens mit den Fingerspitzen mitzuwippen. Tief im Inneren der kaleidoskopischen Fusion-Melodien steckt eine Vielzahl von Einflüssen, die aber weniger konkrete Referenzen als Dialekte einer musikalischen Sprache der Band zu sein scheinen: Man hört Afrobeat, Soul und Hip-Hop, UK Garage, den exzentrischen Miles Davis, Blaxploitation-Soundtracks und hier und da - wie im weitschweifigen Siebenminüter "EU (Emotionally Unavailable)" - sogar Spuren von Post-Rock-Klangschleifen, wie sie Sigur Rós in den Nullerjahren spielten. All das existiert bei Nérija gleichzeitig - und verdichtet in einer warmen, sprudelnden Unterwasserstimmung.

Annett Scheffel

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Miss Platnum & Bazzazian - "The Opera" (Urban)

Miss Platnum & Bazzazian - "The Opera"

Quelle: Urban

Prinzipiell ist es ja super, wenn zwei erfolgreiche Pop-Künstler sich zusammentun, nicht um gemeinsam doppelt so erfolgreich zu sein, sondern um ganz frei vom Leistungsdenken einfach nur die Kunst rollen zu lassen. Dachten sich wohl Ruth Maria Renner alias Miss Platnum aus Berlin und der Kölner Produzent Benjamin Bazzazian, der in den vergangenen Jahren als eine Hälfte des Produzententeams Die Achse sowie als Solo-Produzent den Deutschrap-Sound prägte. Unter anderem arbeitete er für Haftbefehl, Celo & Abdi, Marsimoto und viele mehr. Auf ihrem gemeinsamen Album "The Opera" (Urban) frönen die zwei nun aber leider einem richtungslosen, aber fett aufgetragenen Gewitterbeat-Emo-Autotune-Gospel-Sound. Die Eröffnungsminute "Anthem" klingt wie Björk im Kirchenchor. In "Rainbow Jesus" singt Miss Platnum mit ihrer wie immer beeindruckenden Stimme, die hier nur ganz in Autotune-Schrillen gepackt ist, sie habe es satt, den Regeln zu folgen - wobei Bon Iver und Kanye West klar als stilistische Wegweiser herauszuhören sind. "Look at me I'm thirsty, I crave peace" heißt es in "Weapons", und in den kryptischen Zeilen von "Fresh Start" geht es einer Deutungsmöglichkeit nach um die Erfahrung des Flüchtlings, der sich verloren fühlt und sich danach sehnt, an die Hand genommen zu werden. Inhaltlich ist das natürlich lobenswert, aber noch schöner wäre es gewesen, wenn auch die eine oder andere Melodie in Erinnerung geblieben wäre. Ein wirres Album für eine verwirrte Welt.

Jan Kedves

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Helge Schneider - "Partypeople (beim Fleischer)" (Cable Car Records)

Helge Schneider ´Partypeople (beim Fleischer)"

Quelle: dpa

Nur mal als Gedankenspiel: Ist Helge Schneider am Ende weder der lockerste Pointenverschenker, noch der anarchistischste Jazz-Zerkauzer des Landes, sondern eigentlich eben doch der größte Melancholiker? Die Indizien verdichten sich auf "Partypeople (beim Fleischer)" (Cable Car Records), Schneiders neuem Album, jedenfalls: "Manchmal ist in der Wundertüte des Lebens nur Puffreis drin", heißt es da. Oder: "Ich bin der Partypeople / Ich geh auf Partys / Ich bring nix mit / Ich komm allein." Und natürlich: "Wenn der Komet kommt, macht er alles kaputt." Die Enttäuschungen sind also bunt, die Einsamkeit tanzt in Gesellschaft, die Hände sind leer - und dann ist alles vorbei. Der Rest ist Dada und krautiger Blues und Swing und Jazz. Fleischwurst ist auch noch aus.

Jakob Biazza

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Volbeat - "Rewind, Replay, Rebound" (Universal Music)

Volbeat - 'Rewind, Replay, Rebound'

Quelle: dpa

Volbeat wollen jetzt Rockhymnen schreiben. Pop-Rockhymnen wahrscheinlich sogar, stadiongroß, was zunächst vor allem bedeutet, dass es auf "Rewind, Replay, Rebound" (Universal Music) noch mal weniger Metal-Riffs als früher gibt, und dafür mehr Getragenes mit Verzerrung. Und das ist natürlich vor allem strategisch auch absolut klug gedacht, die Band aus Dänemark hat in diesem Segment ja tatsächlich noch etwas Wachstumspotenzial. Rockhymnen schreiben wollen ist nur leider das Komponisten-Pendant zum - nur als Beispiel jetzt - Bau eines Volks-Autos. Es braucht klare, sehr unkomplizierte Formen, die jeder schnell erfassen und mögen kann. Und dann aber auch noch etwas anderes, eine kleine Scharte, eine schnuckelige Unförmigkeit, irgendein nickliges Detail, das ein winziges Bisschen Leidenschaft weckt. Ersteres klappt sehr gut auf dem Album. Letzteres gar nicht.

Jakob Biazza

© SZ.de/luch
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