Alben der Woche:Seelenmusik, effektiv wie 382 Yogastunden

Alben der Woche: Songs fürs Hollywood-Lagerfeuer: Lana Del Rey.

Songs fürs Hollywood-Lagerfeuer: Lana Del Rey.

(Foto: Neil Krug/Universal Music)

Großes Programm gegen den Lockdown-Winter: Lana Del Rey ist sommermelancholisch, Alice Phoebe Lou leuchtet - und Paul Stanley von "Kiss" ist in Samthosen geschlüpft.

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Vegyn - "Like a Good Old Friend" (Plz Make It Ruins/Rough Trade)

Es ist ja alles nicht so leicht gerade. Lockdown-Winter, steigende Infektionszahlen, dazu Sturm und Regen. Höchste Zeit also für Seelenmusik. Irgendwas jedenfalls, das einen mindestens so effektiv ausbalanciert und mit Energie versorgt wie 382 Yogastunden. Höchste Zeit für Vegyn. Oder Krautjazz. Beides klingt sehr gesund, vegan und fermentiert halt. Keine akustischen Sedativa, sondern sanfte Muntermacher. Hinter Vegyn verbirgt sich der Londoner Produzent Joe Thornalley, der bereits für Frank Ocean gearbeitet und mit dem eigensinnigen Noiserapper JPEGMAFIA kollaboriert hat. 2019 erschien sein Debütalbum voller kleiner Perlen, die mal aus der Hip-Hop-Bay, dann wieder aus den smoothen Gewässern der elektronischen Tanzmusik gefischt waren. Sehr uneitle, aber nicht ambitionslose, coole, aber in warmen Synth-Tönen gehaltene Tracks. Genug Beat-Gefrickel, um die Nervenzellen im Hirn aktiv zu halten, aber mindestens genauso viel Harmonik und flimmerhärchenstreichelnde Klangtextur. Seine neue EP heißt "Like a Good Old Friend" (Plz Make It Ruins/Rough Trade), und damit ist eigentlich schon alles gesagt. Auf diesen Freund kann man sich auch im erzwungenen Alleinsein verlassen. Die Soundgeneratoren pumpen weich, die Melodien bewegen sich wie sanfte Wellen. Sogar die effektverfremdeten Sprachsamples knarzen irgendwie menschenfreundlich. Dabei einzuschlafen, muss aber auch niemand befürchten, dafür passiert zu viel. Wäre Vegyn ein Gesundheitsprodukt, würden wir werben: Die perfekte Balance zwischen Anspannung und Entspannung. "Sometimes I feel like I'm ruining songs" heißt der letzte Track. Er kann beruhigt sein. Ist alles sehr hübsch geworden. Juliane Liebert

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Mathias Modica - "Kraut Jazz Futurism"-Compilation (Kryptox / !K7 Records)

Mathias Modica, der Münchner Gourmet für unbekannte, aber dafür umso interessantere Musik aus Deutschland schenkt uns derweil den zweiten Teil seiner "Kraut Jazz Futurism"-Compilation (Kryptox / !K7 Records). Der erste enthielt unter anderem geheime Hits wie "Orange Man" von Karl Hector & The Malcouns. Auch die neue Zusammenstellung bereitet wieder großes Vergnügen. Hier regieren Rhythmus und Spielfreude. Ein paar psychedelische Keyboards dürfen orgeln, aber vor allem ist diese Musik, die bei aller Heterogenität der Bands tatsächlich treffend Krautjazz genannt werden kann, ein Fest des offenen Grooves. Offen, insofern diese Songs nichts werden wollen, sondern im ständigen Werden ganz bei sich sind. Der Groove, muss man wissen, ist so etwas wie der Chefgott der Musik. Nur viel cooler als jeder Chefgott. Weshalb er viel öfter in einer wilden Orgie gefeiert werden sollte. Zum Beispiel mit einem percussiongetriebenen, ritualschreiangereicherten "Tanz um den Melkeimer". Juliane Liebert

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Alice Phoebe Lous - "Glow" (Alice Phoebe Lou)

Die wilden Orgien liegen auf Alice Phoebe Lous neuem Album "Glow" (Alice Phoebe Lou) wohl eher in der Vergangenheit. Jedenfalls haucht sie, die Stimme vernebelt von geisterhaftem Studiotremolo, gleich im ersten Song "Only when you're far away, far away, far away", während links und rechts Analogsynthesizerarpeggien am Layed-back-Schunkelbeat herunterrinnen wie Rapunzels Haar. Die Musik ist eigenproduziert. Sehr Hi-Fi, alle Instrumente nah am Ohr und dicht beieinander: Kammerfolk, der einen sofort in seinen Bann zieht. Wobei immer wieder auch die Indie-E-Gitarre zuschlägt. Ein Schrammeltrauma muss aber niemand fürchten, dafür sorgen schon Dreiertakt-Balladen wie "Mother's Eyes". Überhaupt hat Alice Phoebe Lou ein feines Sensorium für Chefgott Groove, dafür, dass auch Singer-Songwriter-Musik einen Tanz in sich tragen muss, und sei er auch aus dem letzten "Corner of My Mind" heraus geboren. Was Schmacht-Country nur mit E-Gitarre und ein bisschen Slide-Schmelz wie "How to Get out of Love" nicht ausschließt. Seit Jahren gehört die Südafrikanerin zur Berliner Musikszene. "Glow" ist kein Album, das auf den Mainstream schielt. Dank des starken Songwritings und der feinen Arrangements ist es trotzdem überaus zugänglich. Und es bietet eine Menge selbstbewusste Sehnsucht: "I ache for you but it doesn't paint me blue." So übersteht man auch die dritte Welle. Juliane Liebert

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Paul Stanley's Soul Station - "Now And Then" (Universal Music)

Da hat wieder einer sein Jodeldiplom geschafft: Paul Stanley, Mitgründer der New Yorker Schmink-Schock-Beatles Kiss, hat ein zehnköpfiges Miniorchester um sich geschart - und spielt authentisch verbrämten 60er- und 70er-Soul. Neben Versionen der Klassiker von Smokey Robinson, den Stylistics oder Temptations hat Stanley auch fünf eigene Genre-Songs geschrieben. Der Spott sitzt hier locker, dafür muss man zugeben: Seine Stimme klingt im Kontext super, die neue Samthose passt. Daran, dass "Now And Then" unnötig wie ein zweiter Eierschneider in einer bestens ausgestatteten Wohnküche ist, ändert das nichts. Joachim Hentschel

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Lana Del Rey - "Chemtrails Over The Country Club" (Universal Music)

Detailliert rezensieren können und dürfen wir dieses Werk vor der Veröffentlichung leider nicht. Aber wenn man nach dem geht, was vorab über das achte Album der amerikanischen Fantasy-Songwriter-Diva zu hören war, ist dies ein mehr als würdiger Nachfolger zur Sensationsplatte "Norman Fucking Rockwell!". Etwas gedeckter im Ton, insgesamt so sommermelancholisch, wie es die bereits veröffentlichten Songs vermuten lassen. An einem riesigen, bestimmt auf einer Soundstage der Paramount-Studios gelegten Hollywood-Lagerfeuer singt sie zum Schluss sogar ein Joni-Mitchell-Stück. Klasse, in jeder Wortbedeutung. Joachim Hentschel

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Bell Orchestre - "House Music" (Erased Tapes / Indigo)

Für alle, die sich einfach mal davontragen lassen wollen aus dem ganzen Schlamassel, sei zum Schluss noch "House Music" (Erased Tapes / Indigo) empfohlen, der erste Longplayer seit zehn Jahren von Bell Orchestre. Die Instrumental-Band aus Montreal kann man aufgrund der personellen Überschneidungen fast als Nebenprojekt von Arcade Fire bezeichnen. Offen wie Krautjazz ist diese "House Music", größtenteils in Improvisationssessions entstanden. Aber statt Jazz gibt es einen Ausflug in weite, bewegte Klanglandschaften. Der Schichten von E-Bass über Streicher bis zum Blechbläserensemble sind darin viele, aber Wall of Sound wäre trotzdem ein viel zu martialischer Begriff für den Charakter dieser Indie-Sinfonien. Die Orchestre-Mitglieder bauen stattdessen flexible Klangraumteiler, die immer wieder neue Konstellationen bilden. Die Stimmung verändert sich gleitend wie das Wetter. Eine Musik, die sich wie die große Bewegungsfreiheit anfühlt. Juliane Liebert

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