Süddeutsche Zeitung

Alben der Woche:Segne ihre Seelen, segne ihre Finanzen

Justin Bieber huldigt auf seiner EP weiter Jesus, Jean-Michel Jarre dem Regenwald. Dazu Matthew E. White mit Lonnie Holley und Rhiannon Giddens mit Kelten-Folk.

Matthew E. White and Lonnie Holley - "Broken Mirror: A Selfie Reflection" (Spacebomb/Secretly Distribution)

Vor ein paar Jahren stellte der Sänger und Produzent Matthew E. White sich eine Handvoll sehr fähiger Musiker ins Studio in Richmond, Virginia, um mit ihnen auszuloten, ob sich seine Songs auch anders komponieren ließen. Freier, wilder. Spontane rhythmische Assoziationen anstelle seiner gewohnten (wunderschönen) Soul-Arrangements. Etwas mehr Ekstase als bei seinem sonst so herrlich sedierten Nuschelgesang. Ergebnis: Nein, geht nicht. Wenigstens für den Moment. Also ließ er die Jams ruhen, die entstanden waren. Jetzt hat er sie wieder hervorgeholt und herausgefunden, was damals fehlte: Lonnie Holley. Der 71-jährige Künstler ist so etwas wie die Mensch gewordene freie Assoziation. Er erschafft im Hauptberuf Skulpturen aus Unrat, den er in seiner Heimatstadt Birmingham, Alabama, aufliest. Weitere Eckdaten: siebtes von 27 Kindern (er selbst hat 15), als er vier Jahre alt war, soll die Frau, die ihn informell adoptiert hatte, ihn gegen eine Flasche Whisky eingetauscht haben. Seine Gesangsparts zu "Broken Mirror: A Selfie Reflection" (Spacebomb/Secretly Distribution) soll er in nur vier Stunden aufgenommen haben und zwar weitestgehend improvisiert, nachdem er sich 20 Sekunden eines Songs hatte vorspielen lassen. Beim ersten Hören klingt das Ganze denn auch, als hätte man einen Schwarzen Jim Morrison ins All geschossen, damit er den Aliens dort zu digitalen Störgeräuschen seine Welt erklärt. Ungefähr ab dem dritten Durchlauf wird es aber eine phasenweise grandios einnehmende Predigt über das Leben an sich. Jakob Biazza

Jean-Michel Jarre - "Amazônia" (Sony Music)

Sebastião Salgado ist der Brasilianer mit den dramatischen Schwarzweiß-Naturfotos, Jean-Michel Jarre der Franzose mit den massiven Synthesizer-Klangwelten. Zwei große Künstler mit gigantischen Erfolgen und einem, wenn man so will, gemeinsamen Problem: Ihre Arbeit gilt einigen als zu dekorativ. Um den Vorwurf ins Elefantöse zu potenzieren, haben sie sich nun frech zusammengetan: "Amazônia", das neue Jarre-Album, ist der Soundtrack zur Salgado-Ausstellung über den brasilianischen Regenwald - eine 52-minütige Installation aus Originalklängen und synthetischer Naturstimmung, die auf so herrliche und wirklich zügellos arrogante Art die große 70er- und 80er-Zeit der experimentellen Klanglabore belehnt, dass man sie jedem dieser waschlappigen Tomatensaft-Trinker heute zur ewigen Dauerschleife in die Beats-by-Dr.-Dre-Kopfhörer brennen mag. Joachim Hentschel

Justin Bieber - Freedom (Def Jam Recordings)

Justin Bieber hat eine Überraschungs-EP herausgebracht, und was soll man sagen: Das Überraschendste an "Freedom" ist leider doch der unangekündigte Veröffentlichungszeitpunkt. Ansonsten macht der Kanadier genau dort weiter, wo er mit "Justice", seinem jüngsten Album, vor drei Wochen (!) aufgehört hat. Er ist weiterhin verheiratet und weiterhin gläubig, so gläubig, dass das Werk bei Streamingdiensten gleich unter "Gospel" einsortiert wird (musikalisch ist es weiterhin Bieber-Pop, wobei ein paar der Beats durchaus elegant herumhallen). Allerdings schwingt das Pendel auf "Freedom" doch noch etwas mehr Richtung Glauben. Wo auf dem Vorgänger noch manchmal unklar war, ob Bieber nun Gott oder die Angetraute besingt, scheint der Fall hier klar (oder im Hause Bieber geht etwas sehr Seltsames vor sich): "Your love's enough to wash it all away / On the third day, yeah, you rose up (...) There'll never be nobody like you / there'll never be nobody like Jesus." Kurzform: Reinigende Liebe, Auferstehung, Jesus für immer. Weitere Erkenntnisse: Der Teufel ist ein Lügner. Als Teenie-Star aufzuwachsen bringt viele Verführungen. Bieber ist davon jetzt aber frei und betet deshalb für alle, die seine Musik gerade hören: "Segne ihre Seelen, segne ihre Finanzen, segne ihre Familien." Jakob Biazza

Rhiannon Giddens - "They're Calling Me Home" (Nonesuch/Warner)

Wer es im Spirituellen etwas erdiger will, hält sich deshalb besser an "They're Calling Me Home" (Nonesuch/Warner). Rhiannon Giddens, mit den Carolina Chocolate Drops bereits Grammy-dekoriert (Barack Obama ist auch Fan), bringt da, zusammen mit dem Multi-Instrumentalisten Francesco Turrisi, die Folk-Traditionen von Americana und keltischer Musik zusammen. Minimalistisch, tiefenentspannt, manchmal vielleicht ein bisschen ätherisch. Aber sehr schön. Jakob Biazza

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