Alben der Woche:Herzen brechen, Familien auch

Lily Allen, die freieste Schnauze des Pop, kehrt mit einem Album voller Sucht, Suff und Selbstentzauberung zurück. Lykke Li schrammt mit emotionaler Wucht knapp an der Zwölf vorbei.

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Lykke Li - "So Sad So Sexy" (RCA/Sony)

Lykke Li

Quelle: Sony Music

Es bereitet schon sehr große Freude, Li Lykke Timotej Svensson Zachrisson alias Lykke Li dabei zuzuhören, wie sie immer gerade nicht dort steht, wo man glaubt, dass sie steht. Der schwedischen Indie-Königin gelingt mit jeder neuen Platte etwas, was im Pop überhaupt nicht so selbstverständlich ist: die fortwährende Weiterentwicklung. Weshalb ihr neues, viertes Album auch gar nichts mehr zu tun hat mit ihrem fröhlich federnden Hit "I Follow Rivers", der ihr vor sieben Jahren den Durchbruch bescherte.

"So Sad So Sexy" (RCA/Sony) ist eine Sammlung reinster und feinster Pop-Songs, die aber mit so heftiger Schlagseite herumtorkeln, dass man ihnen beim Auseinanderfallen zuhören kann. An "Hard Rain Falling", dem Eröffnungssong der Platte, hat Rostam Batmanglij mitgeschrieben und -produziert. Was Lykke Li und der Sound-Tüftler der New Yorker Art-Pop-Band Vampire Weekend da aus Stimmengewaber und Instrumentengeistern zusammenweben, ist ein Song, der sich streckt, windet, aufbäumt - und doch immer nur wird und niemals ist. "So Sad So Sexy" ist sehr zeitgenössische Popmusik, die mit größtmöglicher emotionaler Wucht knapp an der Zwölf vorbeischrammt. So gut danebenliegen kann außer Lykke Li gerade nur die Neuseeländerin Lorde.

Julian Dörr

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Get Well Soon - "The Horror" (Caroline)

Get Well Soon

Quelle: Caroline

Was kommt nach der Liebe? Für Konstantin Gropper ist es der Horror. Der deutsche Songschreiber und Multiinstrumentalist hat nach der sehr gelungenen (weil facettenreichen) Liebesliedsammlung "Love" ein neues Album aufgenommen. Es heißt "The Horror" (Caroline), und genauso klingt es auch. Eine Platte voller Albträume und Filmmusikfetzen wie aus alten, grobkörnig flackernden Grusel-B-Movies. Die Songs auf "The Horror" lassen sich Zeit, sie dräuen am Horizont wie dunkle Wolken, die Geigen schwelgen und zittern, die Bläser flöten sanft. "Martyrs" und "The Only Thing We Have To Fear" sind ohne Zweifel das Werk eines begnadeten Arrangeurs.

Konstantin Gropper und sein Projekt Get Well Soon sind schließlich auch das Nächste, was dieses Land an jüngeren Indie-Talenten vom Schlag eines Win Butler von Arcade Fire zu bieten hat. Es gibt hierzulande ja leider viel zu wenige Typen, die sich mit Verve und ohne Zweifel in überbordenden Irrsinn werfen. Gropper ist so einer. Er baut seine Musik nach dem Motto "Denke groß!". Nur leider fehlt ihm dabei doch bisweilen das letzte Quäntchen Songschreiberglück. Im dichten, dramatischen Nebel der Arrangements verliert sich auf "The Horror" nicht nur der Hörer, sondern auch die Songs selbst.

Julian Dörr

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Lily Allen - "No Shame" (Parlophone/Warner)

Lily Allen

Quelle: Warner Music

Man darf sich von all dem karibischen Marimba-Gebimmel und sanften Offbeat-Gezucke, von den Dancehall-Schlenkern und Synthie-Kloppern nicht ablenken lassen. Unter der sehr zeitgenössischen, im Windkanal der Pop-Trends optimierten Oberfläche von Lily Allens neuem Album "No Shame" (Parlophone/Warner) lauern tiefe menschliche Abgründe. Hier gibt es keine Scham, alles wird offen gelegt. "I'm a bad mother, I'm a bad wife/ You saw it on the socials, you read it online", heißt es schon im ersten Song. Auftritt: Lily Allen, Mutter von zwei Töchtern, frisch geschieden, Popstar.

Was nun folgt sind Geschichten aus dem einsamen, miesen Leben. Hier verlieren sich die Protagonisten in Suff, Sucht und Selbstzerstörung. Herzen brechen, Familien auch. Irgendwo vermischen sich Alltag und Ausnahmezustand, Kunst und Künstlerleben. "No Shame" ist ein Selbstenthüllungs- und Selbstentzauberungsalbum. Und Lily Allen wieder das, was sie zu Beginn ihrer Karriere vor beinahe zwölf Jahren schon einmal war: eine der freiesten Schnauzen des Pop.

Julian Dörr

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Snail Mail - "Lush" (Matador)

Snail Mail

Quelle: Matador

Die schönste Gitarrenmusik kommt diese Woche aus Baltimore, Maryland. Lindsey Jordan, die Frau hinter der Band Snail Mail, musste im vergangenen Jahr noch ihren High-School-Rektor um Erlaubnis fragen, wenn sie ein Konzert in New York spielen wollte. Nun hat Jordan die Schule abgeschlossen und ihr Debütalbum veröffentlicht. Auf "Lush" (Matador) finden sich herrliche, von weißgoldener Nachmittagssonne durchstrahlte Gitarren-Pop-Hymnen aus der Vorstadt, zehn harmonieselige Songs über die lebensbedrohliche Langeweile des Teenager-Daseins.

"It feels like the same party every weekend, doesn't it?" Lindsey Jordan zwirbelt ihre Stimme um ein paar beeindruckende Riffs, den süßlich-melancholischen Sog von "Stick" etwa oder die Sonic-Youth-Spiralen von "Heat Wave", immer auf der Suche nach der einen erhabenen Melodie, die einen packt und aus dem Vorstadtmief hinaus in die Zukunft schleudert. Auf "Lush" findet sie mindestens sieben davon.

Julian Dörr

© SZ vom 6. Juni 2018/ SZ.de/crab/biaz
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