Alben der Woche:Fertig zum Wegbeamen

Selah Sue liefert den Soundtrack zum Corona-Babyboom, Yung Lean verabschiedet sich (fast) von den Drogen und die "Einstürzenden Neubauten" finden nach 40 Jahren zur Harfe.

Aus der SZ-Pop-Redaktion

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Einstürzende Neubauten - Alles in Allem (Potomak)

Einstürzende Neubauten - 'Alles in Allem'

Quelle: dpa

Vierzig Jahre Einstürzende Neubauten. Das Jubiläum feiern Blixa Bargeld und seine Krachfreunde mit "Alles in allem" (Potomak), einem Album, auf dem alles noch einmal zusammenfindet, was man adhoc mit ihnen assoziiert: der Schrottplatzlärm, die alte Westberliner Frontstadt-Romantik, auch die Befühlung des heutigen Berlins in typischer, kryptisch-dräuender Bargeldscher Lyrik. Dabei gelingt ein anrührender Balanceakt. Hier der geschichtsschwere Sog runter in den Brandenburgischen Sand, auf den die Stadt gebaut ist. Dort ziemlich luftige Wegfliegfantasien. "Am Landwehrkanal" ist eine geklöppelte Schunkelhymne auf Rosa Luxemburg, deren Leiche 1919 in besagtem Kanal von ihren Mördern entsorgt wurde. "Möbliertes Lied" ist ein stagnierend-düsterer Torchsong, in dem Bargeld, 61, in seiner Dachgeschosswohnung in Mitte scheinbar darüber nachdenkt, wie es mal sein wird, wenn er in den Berliner Himmel fahren muss: "Wir werden auf der Dachterasse warten, Abholung garantiert." Fertig zum Wegbeamen, sozusagen, aber: "Um Himmels Willen kein Gott!" Doch, da kann man als Zuhörer ruhig ein bisschen kichern. "Zivilisatorisches Missgeschick" feiert mit aufheulender Kreissäge und allerlei depperndem Metall dann noch einmal den Ur-Neubauten-Lärmsound, aber am Ende wird alles ganz harmonisch und leicht: "Am Rand des Rollfelds, auf dem Tarmac, hier komme ich abhanden", singt Bargeld in "Tempelhof". Noch eine Himmelfahrt also, und diesmal wird sie sogar begleitet von zarten Harfenzupfern. Harfe! Bei den Neubauten!

Jan Kedves

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Perfume Genius - "Set My Heart On Fire Immediately" (Matador)

CD Cover

Quelle: SZ

Wenn im Pop mal jemand versucht, aus dem Viervierteltakt auszubrechen, ihn interessanter zu machen, kann das toll sein. Dave Greenfield, der kürzlich verstorbene Keyboarder der Punkrock-Band Stranglers, tat es, indem er in das Cembalo-Intro zum Hit "Golden Brown" (1981) alle drei Takte noch einen Extraschlag einbaute. Aus dem Dreiviertel-Walzer, in dem das Stück eigentlich komponiert ist, wurde so zwischendurch ein Vierer. Beim Hören hat man das Gefühl, da hätte sich jemand verzählt. Eine ähnlich interessante Takt-Spielerei findet sich auf "Set My Heart On Fire Immediately" (Matador), dem neuen, hervorragenden Album von Mike Hadreas alias Perfume Genius. "Describe" heißt die Single, in der es zu derbem Zeitlupen-Stoner-Rock ums Rumpeln im Magen geht und um ein Schloss an der Tür, das vielleicht nicht halten wird - alles wirkt ein bisschen düster und schwer verknallt, als wäre der neue Freund supersexy, aber ein bisschen brutal. Kurz nach der ersten Minute setzt der Refrain ein, und man denkt, die Platte habe einen Sprung oder das WiFi einen Aussetzer. Tatsächlich lässt die Band mehrmals anderthalb Schläge aus, der Takt springt nach dreieinhalb Vierteln zurück auf die Eins. Ein desorientierender Effekt, wunderbar! Als würde Perfume Genius einem die Augen verbinden, einen auf der Stelle drehen und rufen: Komm mich suchen!

Jan Kedves

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Selah Sue - "Bedroom EP" (Because)

CD Cover

Quelle: SZ

Die belgische Singer-Songwriterin Selah Sue, bürgerlich Sanne Greet A. Putseys, wurde bekannt mit Reggae-inspirierten Folksongs, die sie im eigenen flämischen Patois sang ("Raggamuffin"). Inzwischen sind die jamaikanischen Einflüsse in den Hintergrund getreten, und Selah Sue hat zwei Kinder bekommen. Weswegen sie ihre neue "Bedroom EP" (Because) dem jungen Mutterglück widmet. Der erste Song startet mit Vogelgezwitscher, ein zartes Gitarrengesummsel deutet den ersten Schrei nach Milch an. "I will be there in a heartbeat", singt Sue mit verzärtelter Stimme, in etwa: Warte nur einen Herzschlag, mein Baby, die Brust wird gleich da sein. Wie beruhigend - sogar für Nicht-Babys. Sie habe einfach auf einer pinkfarbenen Peace-Love-and-Unity-Wolke geschwebt, schreibt Selah Sue zur EP: "Es war das natürlichste High, das ich je erlebt habe." Den anderen vier Songs der EP ist die mütterliche Hormonwonne ebenfalls anzuhören. Vielleicht wird es so doch was mit dem Corona-Babyboom in neun Monaten?

Jan Kedves

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Phenomenal Handclap Band - "PHB" (Toy Tonics)

CD Cover

Quelle: SZ

Die ewige Wiederkehr der Discomusik, wie lässt sie sich erklären? Die New Yorker Phenomenal Handclap Band formuliert auf ihrem neuen Album "PHB" (Toy Tonics) einen interessanten Gedanken dazu: "If you sing that song forever, the next time might be better" - sinngemäß: Wenn man denselben Song ewig singt, wird er nicht langweilig, sondern klingt beim nächsten Mal sogar noch besser. Warum sollte das nicht für das gesamte Genre gelten? "Remain Silent" heißt der Song. Er ist eine Hymne auf die Kraft der Wiederholung. Gespielt wird er im astrein nachgebauten Chic-Stil, mit Doppel-Handklatschern, zwei Sängerinnen, die sich im Refrain melodisch umspielen, und der Basslauf klingt so funky, als stünde Bernard Edwards nochmal persönlich im Studio 54. Doch, man muss schon den Hut ziehen davor, wie Daniel Collas, der Chef der Band, sein Plattensammler-Auskennertum kombiniert mit poppigem Songwriting, und wie er dabei auch in Seitenstraßen steuert: Manche Songs tendieren zum Softrock, andere zum Boogie. Alles Spielarten beziehungsweise Folgen von Disco. "Charm Spectrum" klingt sogar nach deutschem Krautrock der Siebzigerjahre. "PHB" ist ein gutes Album für die Sommerparty - wo auch immer man in diesem Jahr eine veranstalten können wird.

Jan Kedves

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Phillip Sollmann "Monophonie" (A-Ton)

CD Cover

Quelle: SZ

Wem der Sinn nicht nach Party steht, der könnte "Monophonie" (A-Ton) genießen. Das neue Album von Phillip Sollmann - sonst als Techno-Produzent und DJ unter dem Namen Efdemin bekannt - entwickelt einen angenehm meditativen, anschwellenden und abschwellenden Sog aus Rassel-, Klonk-, Zupf-, Orgel- und Klöppel-Sounds. Sollmann hat sie gemeinsam mit dem renommierten Ensemble Musikfabrik auf historischem Analog-Instrumentarium eingespielt: singende Metallstäbe, maßgefertigte Orgeln, melodische Schlaginstrumente. Im Club hört man so etwas normalerweise nicht. Aber gerade das ist das Tolle an diesem Album: Es stammt einerseits ganz klar aus dem Techno-Kontext, bleibt ihm andererseits aber so fern, dass man beim Hören nicht jedes Mal traurig darüber ist, dass die Clubs gerade für unbestimmte Zeit geschlossen haben.

Jan Kedves

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Sleaford Mods - "All That Glue" (Rough Trade)

Sleaford Mods All that Glue

Quelle: Rough Trade

Beim neuen Album der Sleaford Mods handelt es sich um eine Retrospektive. Es finden sich von Fans seit Jahren geliebte Tracks wie Job Seeker und Jolly Fucker, die bisher teilweise nur illegal auf Youtube zu erstreamen waren. Gerade in der ersten Hälfte folgt Hit auf Hit. Das Grundrezept bleibt dabei das Gleiche: Scheppernde Drumcomputer und trockener E-Bass, weitgehend variationslos geloopt. Dazu wütender Sprechgesang. Musik, die allen und jedem den Mittelfinger zeigt. Und dabei so viel Spaß macht, dass sie auch für Neuzugänge bedingungslos empfehlenswert ist.

Juliane Liebert

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Alma - Have U Seen Her (Epic)

Alma - Have U Seen Her

Quelle: Epic Records

"They don't even know who I am" singt die Finnin Alma auf der ersten Single-Auskopplung ("LA Money") ihres Debüt-Studioalbums. Mit "they" sind offenbar all jene gemeint, die versucht haben, die junge Künstlerin musikalisch in eine bekömmliche Ecke zu treiben - hin zu den tropical-housigen Klängen ihrer früheren Hits wie etwa "Chasing Highs". "Ich hatte das Gefühl, an einem Punkt zu sein, an dem ich nicht sein wollte, ich machte Musik, die ich nicht machen wollte, alle verstanden mich falsch", sagt sie heute. "Have U Seen Her" ist damit als künstlerische Emanzipation gedacht, und tatsächlich ist der titelgebende Opener erfrischend unbekömmlich geraten mit seinen harten Snares und den angekratzten Vocals - und ganz ohne gigantische Bass-Drops und sonstiges Produktions-Effektfeuerwerk. Leider hat man diese schöne Reduktion bei den vielen anderen Songs dann doch nicht ganz durchgehalten. Einige sind in ihren jeweils knapp drei Minuten mit tausendfachen Hall-Adlibs und fünf "Leute noch zwölf Ballermann-Klatscher auf 2 und 4 und dann kickt die Bassdrum so richtig rein!!!"-Momenten vollgepumpt - so sehr, dass man das absolut gelungene Songwriting dahinter manchmal fast vergisst.

Quentin Lichtblau

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Yung Lean - Starz (Year 0001)

Yung Lean - Starz (Year 0001)

Quelle: Year 0001

Yung Lean hat sich nach eigenen Angaben im Griff. Obwohl er mit "Lean" den Medikamenten-Missbrauch bereits im Namen trägt und mit Lil Peep und Juice WRLD - beide mittlerweile verstorben - in den mittleren Zehnerjahren den alles andere als lebensbejahenden Emo-Rap prägte, hat er sich nach einem Psychiatrie-Aufenthalt von den meisten Drogen verabschiedet, vom obligatorischen Hustensaft mal abgesehen. Auf "Starz" rückt er so auch ein paar Schritte weg vom eigenen Leid, oder stellt es wie etwa auf "Boylife in EU" in einen größeren Kontext einer zerfallenden Gemeinschaft ("boylife in EU, decompose me, decompose you"). Geblieben ist trotz aller Melancholie allerdings auch sein Humor ("Off Acid at 7/11"), der ihn bei der Verleihung der Bram Stoker Medal of Cultural Achievement vor Staatsgästen wie Angela Merkel zu folgenden Dankesworten am altehrwürdigen Dubliner Trinity College verleitete: "It's an honour to be here at Hogwarts."

Quentin Lichtblau

© SZ.de/luch
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