Süddeutsche Zeitung

Alben der Woche:"Dein Chef hat nen Lambo und zahlt dir 8,50 - wer ist hier Gangster?"

Disarstar besingt den deutschen Oktober, Popa Chubby erfindet den agitatorischen Anti-Verschwörungsmythenanhänger-Roots-Blues-Rock. Und "Selig": sind zurück.

Popa Chubby - "Tinfoil Hat" (Dixie Frog/H'Art)

Endlich mal wieder ein neues Genre! Ausgerechnet von Popa Chubby - Blues-Gitarrist und -Sänger. Eher ein Purist. Und Schwerst-Nerd. Einer von denen, die auf Spielfilmlänge darüber referieren können, warum der 1968er Twin-Reverb-Amp von Fender mit dem von 1969 - also, mit Verlaub und bei allem gebotenen Respekt - nun wirklich auf keinem Auge vergleichbar ist. Gerade wenn man ihn mit dieser einen 61er-Stratocaster in Sunburst-Finish kombiniert, die wiederum aber auch erst ihr volles Klangspektrum entwickelt hat, seit der Lack via Handballen-Geschubber, Plektrum-Gewetze und Gitarristen-Schweiß der Tourjahrzehnte abgetragen worden ist. So einer ist das. Eigentlich.

Und natürlich ist er das musikalisch auf "Tinfoil Hat" (Dixie Frog/H'Art) auch weiterhin. Aber inhaltlich macht er auf seinem "Aluhut"-Album, nun, nennen wir es mal agitatorischen Anti-Verschwörungsmythenanhänger-Roots-Blues-Rock. Ein lyrisches Ich berichtet im Titelsong also etwa, dass Dr. Fauci für den KGB arbeitet. Ein anderer segelt tiefenbekifft durch den "Cognitive Dissonance"-Reggae. Und Chubby erzählt den ganzen "Irren" (seine Worte), dass sie entweder ihr Hirn langsam wieder hochfahren sollten - oder sich eben schleichen. Ganz nach dem guten alten Sponti-Motto "Weibliche Nazis nicht schlagen ist Sexismus" übrigens völlig geschlechterübergreifend: "Baby put on your mask / don't make me have you ask (...) / Baby take off your clothes / cause you know your papa knows / that you are not one of those". Frei übersetzt: Keine Maske, kein GV. Oder, wie man in vorpandemischen Zeiten gesagt hätte: No glove, no love. Jakob Biazza

Selig - "Myriaden" (Universal Music)

Und gleich noch ein, na gut, nicht ganz neues, aber doch sehr exklusiv bedientes Genre. Sagen wir doch einfach Als-wir-noch-jung-waren-waren-wir-die-einzige-glaubwürdige-deutsche-Grunge-Band-mit-Psychedelic-Einflüssen-und-jetzt-sind-wir eben-ein-bisschen-älter-Retro-Rock dazu - und behaupten außerdem, dass Selig sein Erfinder und weiterhin bester (womöglich aber auch einziger) Vertreter sind. Die Band um Sänger Jan Plewka und Gitarrist Christian Neander war ja so lange so gut, weil sie so lange so wenig deutsch war - auch und vor allem in der Produktion: die Gitarren immerhin mit ein paar Zigarettenbrandflecken im Sound, die Texte mit viel kindlichem Traumweltstaunen recht konsequent ein paar Meter neben der Realität unterwegs. Black Crowes auf Deutsch. Stoner Rock für eine Kultur, in der man Silbermond die Lederjacken durchgehen lässt. Dann zerschellten Selig ein bisschen an ihren Charakteren. Und als sie ein paar Jahre später zurückkamen, wurden sie, langsam, doch ein bisschen zur Rockband eines Landes, in dem man Hitparade sagt statt Charts. Und jetzt? Siehe oben. "Myriaden" (Universal Music) ist ein Album, das nicht ganz den alten Wahn hat, aber sich doch wieder dran erinnert, warum er toll war. Anders gesagt: "Und so steh ich hier am Fenster und so gerne würd' ich springen / doch dafür bin ich zu alt - ich werd' erst trinken und dann singen." Mit Anfang fünfzig ist das doch schon viel. Wenn nicht sogar alles. Jakob Biazza

Ernst Molden und Der Nino aus Wien "Zirkus" (Bader Molden Recordings/Rough Trade)

Trotzdem zu glatt? Dann hätten wir noch "Zirkus" (Bader Molden Recordings/Rough Trade), das zweite gemeinsame Werk der beiden Songwriter Ernst Molden und Der Nino aus Wien. Auf der nach oben offenen Schmäh-Skala von 1 (Naschmarkt) über 5 (Gürtel) bis 10 (Zentralfriedhof) ungefähr eine 19. Außerdem der Soundtrack zu Harald Aues Film "Ein Clown. Ein Leben", der im Laufe des Jahres ins Kino kommt. Wenn es im Laufe des Jahres noch Kinos gibt. Ein paar neue Sachen, ein bisschen Great Austrian Songbook. Umgesetzt in der Hauptsache mit Gitarren, die aus eher verschatteten Ecken der Stadt heranscheppern, und Stimmen, die mehr oder weniger alles verschlucken, was sich nicht im phonetischen Spektrum zwischen a und u bewegt: "Warad i a Clown / Na hätt' i 20 Frau'n / Und dazua - ka Ruah." Jakob Biazza

Ian Fisher - "American Standards" (Ian Fischer Music)

Als Ian Fisher vor einigen Jahren auf die Bühne des Münchner Residenztheaters stolperte, nur mit Rock und Gitarre bekleidet, und dann mit seiner brüchigen Stimme ein Shakespeare-Sonett zu singen begann, war es, als verstünde da jemand zum ersten Mal den Zauber dieser Texte. Die Inszenierung von "Was ihr wollt" war damals ein Renner, mit ziemlicher Sicherheit lag das auch an Fisher und seinen Sonett-Vertonungen. Seitdem tingelt der Amerikaner durch Europa und beglückt die Menschen mit seiner Musik. Mal hier, mal da. Immer wieder meldet er sich zwischendurch von der heimatlichen Farm im mittleren Westen der USA, wo er es aber nie lang auszuhalten scheint. Inzwischen hat er sich so etwas ähnliches wie niedergelassen in Wien, vorerst zumindest, denn Fisher ist, wie er selbst sagt, ein tourender Mensch, einer, der auf die Straßen und in die Clubs gehört. In Wien jedenfalls sind sie zu recht ganz verschossen in den kleinen Mann aus Missouri, denn diese Art Folk, die er mitten unter ihnen macht, die kriegen einfach nur die Amerikaner so gut hin.

Nun ist Ian Fishers neues Album "American Standards" erschienen. Zwölf Songs, amerikanischer als jeder amerikanische Standard ("American Standard" ist übrigens auch der Name eines Toiletten-Herstellers, aber das nur am Rande). Auf dem Album gibt es alles, was das Folk-Herz begehrt: Pedal-Steel-Gitarren, Banjo, bisschen Rhythmus, Roadtrips und irgendwas über Nashville, Tennessee. Die Zauberformel für Countrymusik laute, so sagte das einst der Musiker Harlan Howard, "Three Chords and the Truth", also drei Akkorde und die Wahrheit. Mehr nicht. Fisher hat das auch beherzigt und eines der schönsten Lieder auf dem Album so genannt. Darin trauert er einer verlorenen Liebe nach, mit seiner jugendlichen, teils zerbrechlichen Stimme singt er: "Art is just something we use to decorate space", die Kunst ist auch nur dazu da, die Leere zu dekorieren, und das zu sagen, was man dem anderen nicht ins Gesicht sagen kann. Aber was soll er machen? Nicht über diese Liebe zu singen, wäre nun mal nicht die Wahrheit und somit keine Option. Zum Glück. Christiane Lutz

Disarstar - "Deutscher Oktober" (Warner Music)

Große Rapkunst: dem Publikum gleich mit den ersten beiden Zeilen vermitteln, worauf es sich einzustellen hat. "Dein Balenciaga-Pulli / Is' mir egal, du Dulli", beginnt Disarstar also das Intro von "Deutscher Oktober", und macht damit zumindest mal direkt klar, was es auf dem Album nicht geben wird: Uhren-Geprotze, Rap-Geflexe, AMG-Schaufahren. Stattdessen ist das fünfte Album des Hamburgers eine Abrechnung mit Gesellschaft und Kapitalismus: "Die Antwort auf die liberale Arroganz heißt Klassenkampf!" Diese Flughöhe. Das Ganze kommt mit sehr wuchtigen Beats daher. Und mit irgendwas zwischen Selbstreflexion und Ironie: "Dein Chef hat nen Lambo und zahlt dir 8,50 - wer ist hier Gangster?" Linus Freymark

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