Alben der Woche:Die Apokalypse als Kasperletheater

Busta Rhymes rappt, sympathisch, zum Untergang der Menschheit, Andrew Bird rettet Weihnachten. Dizzee Rascal bündelt, was Grime ausmacht, und Elvis Costello ist wieder Fies - und deshalb herrlich.

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Andrew Bird - "Hark!" (Loma Vista Recordings-Concord/Universal Music)

Andrew Bird - "Hark!" (Loma Vista Recordings-Concord/Universal Music)

Quelle: Loma Vista Recordings-Concord/Universal Music

Zunächst ein eiliges Wort der Warnung: In nicht mal mehr zwei Monaten ist schon Weihnachten, was ja beides bedeutet - nahenden Stress für alle, die noch keine Geschenke haben (also alle), und musikalisch eher verschneite Zeiten mit Glöckchen, Schlitten, Wollsocken und Zuckerstangen. Flockig. Aber einseitig. Wer bislang "Stille Nacht"-Atmosphäre wollte, aber auch jetztzeitigen Pop, der musste irgendwann recht zwangläufig zu Sufjan Stevens' "Songs for Christmas" greifen. Die haben viel Klassisches. Sind aber doch auch durchweht von einer leichten Avantgarde-Note - vulgo: nicht für alle geeignet. Diese Lücke schließt nun der amerikanische Sänger, Songwriter und Multi-Instrumentalist Andrew Bird mit seinem (zunächst nur digital erscheinenden) neuen Album "Hark!". Bird ist ein sehr fähiger Jazz-Geiger (und -Pfeifer!), der irgendwann zum Folk und zum Indie gefunden hat. Auf seinem neuen Werk bringt er das jetzt alles auf eine Art zusammen, die dem Weihnachts-Kanon, nein: nichts entscheidend Neues abgewinnt. Aber ihn neben etwas eigenem Material doch so übersetzt, dass das Album eine Familie mit durchschnittlich gutem Geschmack geschmeidig über Vorspeise und Hauptgang trägt. Und das ist doch schon viel. Für beides: musikalisch und, wenn es am 20. November physisch erscheint, auch als Geschenk. Gern geschehen.

Jakob Biazza

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Stella Sommer - "Northern Dancer" (Northern Dancer Records)

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Quelle: Label

Um sich von der Krisenstimmung dieser Tage zu erholen, sei "Northern Dancer" (Northern Dancer Records) das neue Album der Berliner Singer-Songwriterin Stella Sommer empfohlen. Sommer ist das kreative Zentrum der Band Die Heiterkeit, die schon seit einigen Jahren zuverlässig unscheinbare Meisterwerke des deutschsprachigen Pop liefert. Auf ihrem zweiten Solo-Ausflug singt Sommer auf Englisch. "A Lover Alone" und "The Ocean Flows Backwards" sind Songs, die mit sanft geschlagenen Gitarrensaiten und Klaviertasten beginnen und dann ganz vorsichtig anschwellen, mit Marschtrömmelchen und Hollywood-Geigen, zum softesten Orchester der Welt. So bleibt extra viel Raum für Sommers Stimme, der immer wieder teutonische Kühle unterstellt wird, was der Realität aber nicht ferner sein könnte. Keine Stimme in diesem Land streichelt liebevoller die Grenze zwischen Halbgedachtem und Nichtgesagtem. "Shadows come in all colours", singt Sommer. Eine Ode an die Zwischentöne, wie gemacht für diese Zeit.

Julian Dörr

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Eels - "Earth To Dora" (E Works/PIAS)

Eels: Earth To Dora (E Works/PIAS)

Quelle: E Works/PIAS

Neben J. Mascis ist Mark Oliver Everett der andere unermüdlich Platten veröffentlichende Grunge-Held der Neunziger. Auch das neue, dreizehnte Eels-Album "Earth To Dora" trägt Everetts unverkennbare und offenbar unverwüstliche gebrochen-elegische Stimme fast ganz allein. Man kann sich immer noch keine bessere vorstellen, um der Depression ein Wiegenlied zu singen. Andererseits ist "Earth To Dora" für Everetts Verhältnisse an vielen Stellen fast fröhlich geraten. Im vergnügt dahingeklöppelten "Are We Alright Again" kommt Everett sogar zu dem Schluss, dass alles soweit doch eigentlich ganz in Ordnung sei und vielleicht doch endlich die Zeit, aus dem Bett zu steigen. So kurz vor dem zweiten Lockdown des Jahres ist das natürlich auch irgendwie ein Spitzengag.

Jens-Christian Rabe

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Elvis Costello - "Hey Clockface" (Concord Records/Universal)

Elvis Costello - "Hey Clockface" (Concord Records/Universal Music)

Quelle: Concord Records (Universal Music)

Viele vermissen immer noch den bollerköpfigen Elvis Costello der Siebziger und Achtziger, der in drei Minuten 300 Zeilen Hass abdrücken, einen ABBA-artigen Ohrwurmrefrain draufschnallen konnte - und dann irgendwann, mit dem Erwachsenwerden, in Richtung Oper, Mondscheinsonate und subventionierte Kleinkunst driftete. "Hey Clockface" (Concord Records/Universal), seine 31. Platte, ist zwar kein direkter Rückgriff in goldene Zeiten, bringt aber eine Menge der geliebten, anarchischen, auch kindischen Costello-Energie rüber. Produziert in Helsinki, Paris und New York mit Musikern aus diversesten Kulturkreisen, testet der jetzt auch schon 66-jährige Fuchs die Geduld und Abenteuerlust seiner Hörerschaft. Fies, deshalb herrlich.

Joachim Hentschel

5 / 8

Oneohtrix Point Never - "Magic Oneohtrix Point Never" (Warp Records)

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Quelle: Label

Zwischentöne gibt es auch auf "Magic Oneohtrix Point Never" (Warp Records), dem neuen Album von Produzent Daniel Lopatin alias Oneohtrix Point Never. Sie trennen die Platte als "Cross Talks" in vier Teile. Was beim Hören ein Gefühl erschafft, als würde man sich durch unterschiedliche Radioprogramme schalten. Ganz schön anachronistisch für einen avantgardistischen Künstler wie Lopatin, der in den vergangenen Jahren immer wieder die Grenzen des Pop ausgelotet hat. "Magic Oneohtrix Point Never" fühlt sich nun zum ersten Mal nicht nach Veränderung an. Man kennt die Versatzstücke, aus denen Lopatin seine eklektischen Songs baut. "Magic Oneohtrix Point Never" ist ein Best-of. Einerseits. Andererseits hält Lopatin alle Stücke in einem derart instabilen Aggregatzustand, dass sie sich quasi unter dem Ohr verflüchtigen. Aus dem Ambient-Fiepen von "The Weather Channel" erhebt sich für ein paar Sekunden Achtziger-Synthie-Pop, nur um zu verzerrtem Emo-Rap zu mutieren, der schließlich in "No Nightmares" mündet, eine Powerballade mit The Weeknd, die auch im Programm von Rockantennen nicht weiter auffallen würde. So viel Pop hat Lopatin noch nie gewagt. Was heißt das nun? Die Zukunft mag ungewiss sein, aber sie hat ein Herz für Kitsch.

Julian Dörr

6 / 8

Busta Rhymes - "Extinction Level Event 2: The Wrath of God" (The Conglomerate Entertainment)

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Quelle: Label

Als "Extinction Level Event" bezeichnet man ein Massenaussterben, bei dem sich in einem kurzen Zeitabschnitt die Population einer Art drastisch verringert. Das bekannteste Extinction Level Event ist das Ende der Dinosaurier an der Kreide-Paläogen-Grenze vor 66 Millionen Jahren - ausgelöst vom Einschlag eines Asteroiden. Der amerikanische Rapper Busta Rhymes beschwört nun auf seinem neuen Album "Extinction Level Event 2: The Wrath of God" (The Conglomerate Entertainment) eine neue Katastrophe. Was nicht ohne Ironie ist, Busta Rhymes zählt schließlich selbst zu den Dinosauriern des Rap. Um sein eigenes Aussterben geht es hier aber nicht. Dafür um alles andere. Acht Jahre sind vergangen seit Busta Rhymes letztem Soloalbum, ganze 22 Jahre seit dem ersten Teil von "Extinction Level Event". Im Intro von Teil zwei wird wild verrührt, was Pandoras Büchse hergibt: Babylon, die Illuminati, 9/11, schmelzende Polkappen, ein Virus. Chris Rock heizt als heiserer Untergangsprophet die Menge auf für das "Second Coming" des "baddest" und "biggest" MC. Was folgt, ist die Apokalypse als Kasperletheater. Die Kulisse wechselt mit jedem Song, über die angestaubte Performance kann das aber nicht hinwegtäuschen. Seine berühmten Hochgeschwindigkeits-Raps packt Busta Rhymes nur dann aus, wenn er jungen Talenten wie Anderson Paak und Kendrik Lamar gegenübersteht. Dass in dieser übertriebenen Inszenierung des Höher-Schneller-Weiter inhaltlich im Grunde doch wachstumskritischer Krisenrap steckt, macht das Ganze paradox, aber irgendwie auch sympathisch.

Julian Dörr

7 / 8

Dizzee Rascal - "E3 AF" (Universal UK)

Dizzie Rascal - "E3 AF" (Universal UK)

Quelle: Universal UK

Mit seinem Debütalbum "Boy in da Corner" hat Dizzee Rascal dem britischen Hip-Hop Anfang der 2000er zu seinem ganz eigenen, bis heute unverwechselbaren Sound verholfen. Einen Popularitäts-Boost bekam Grime, diese schnelle, raue Spielart mit ihren elektronischen Beats, dann in den vergangenen Jahren. Rascals neues Album "E3AF" bündelt nun ziemlich überzeugend, was dieses doch sehr englische Genre in Zeiten eines immer melodischer und polierter werdenden Rap-Mainstreams so erfrischend ungezügelt macht. Getragen wird das Album vom unerschütterlichen Selbstbewusstsein in die eigenen Fähigkeiten. Rascal tritt mit der Gewissheit auf, dass er, egal wie hektisch und flirrend der Beat, immer noch mal hektischer und flirrender ist.

Moritz Fehrle

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Busta Rhymes

Quelle: Flo Ngala/The Conglomerate Entertainment

Laut Chris Rock der "baddest" und "biggest" MC: Busta Rhymes (hinter der Kette).

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© SZ/biaz
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