Süddeutsche Zeitung

Alben der Woche:Besuch bei der Jugendliebe

Dieter Hallervorden denkt nach über: Hühner, Hähne, GV und Vatersprache. "Abba" machen dort weiter, wo sie vor 40 Jahren aufgehört haben. Und aufregende neue Musik gibt es auch.

Joan As Police Woman - "The Solution Is Restless" (Pias)

Die amerikanische Sängerin und Songwriterin Joan Wasser alias Joan As Police Woman, lässigste Nuschlerin aller Zeiten, hat ein neues Album aufgenommen: "The Solution Is Restless" (Pias). Mit dem Afrobeat-Schlagzeug-Genie Tony Allen, der kurz nach den Aufnahmen starb, und dem britischen Gitarristen und Avantgarde-Pop-Tüftler Dave Okumu von The Invisible. Unter dem ja immer unwiderstehlichen Indie-Cool von Wasser zirkeln also Beats und Sounds, die die Songs im allerbesten Sinn extrem elastisch schweben lassen. Musik für den Hindernistanz durch überfüllte U-Bahn-Stationen am Montagmorgen - den man sich nie trauen würde (schon gar nicht im Moment), nach dem man aber sicher ein glücklicherer Mensch wäre. Unbedingt anhören! Jens-Christian Rabe

Noga Erez - "KIDS (Against The Machine)" (City Slang)

Und noch ein Tipp: Die famose israelische Rapperin und Sängerin Noga Erez hat ihr im Januar erschienenes zweites Album "KIDS" in ein akustisches Big-Band-Album verwandelt: "KIDS (Against The Machine)" (City Slang). Wobei es nicht einfach klingt wie ein Big-Band-Album, sondern wie ein Album, für das eine wählerische Hip-Hop-Produzentin mit sehr gutem Geschmack genau die Drum- und Brass-Sounds mit dem meisten Wumms herausgesucht hat. Der Rest wurde einfach weggelassen. Für den Tanz durch überfüllte U-Bahn-Stationen am Abend auf dem Weg nach Hause. Jens-Christian Rabe

Nathaniel Rateliff & The Night Sweats - "The Future" (Stax Records)

Man muss sich die Begleitformation The Night Sweats als eine Art Rettung für Nathaniel Rateliff vorstellen. Künstlerisch. Aber auch kommerziell: "S.O.B.", die 2015 veröffentlichte erste Single des stets in groben Jeanskutten auftretenden Oktetts, eine etwas kraftmeiernde Doo-Wop- und Rhythm-and-Blues-Nummer, steht bei Youtube aktuell bei für diese Musik doch gewaltigen 77 Millionen Views. Ohne diesen von ihm selbst damals schon nicht mehr erwarteten Erfolg hätte der Sänger aus Denver, Colorado, wohl aufgegeben. Schluss mit der Musik. Die famos knarzigen Americana-Songs, die schlau-introvertierten Lebensreflexionen, die es bis dato solo von ihm gab, wurden zwar zu Recht von den wichtigeren US-Musikinstanzen gepriesen - gekauft wurden sie aber nicht sonderlich oft. Dann der Hit. Und jetzt das neue Problem, Rettungen bringen ja oft neue Probleme: Der R'n'B der Night Sweats ist zwar von erhebendem Soul durchzogen, aber auch von hyperbreitbeiniger Männlichkeit. "S.O.B" etwa steht für "Son of a bitch", und dieser Nachkomme einer Dirne, so singt Rateliff das, solle ihm jetzt gefälligst einen Drink geben. Weil: "If I can't get clean, I'm gonna drink my life away" - wenn ich mit der Sauferei nicht aufhören kann, dann ziehe ich sie jetzt eben bis zum Ende durch. Das störte Rateliff zuletzt. Er wollte es gern wieder etwas kleiner, etwas weniger besoffen. Eine Spur mehr Emotion ohne Gebrüll. Also zog er sich zurück und schrieb erst mal allein - sich selbst ein bisschen wiederfinden, verstehen, wie viel Solo-Energie in die Band passt. Erst dann ging es zurück zum Rest. Und was soll man sagen: Grandioser Schritt. Das Album "The Future" (Stax Records) ist tatsächlich eine höchst gelungene Kombination aus Rateliffs Singer-Songwriter-Qualitäten und den muskulösen, bläsergetragenen Stax-Soul-Grooves der Night Sweats. Geht ja selten gut, so was. Hier schon. Jakob Biazza

Snail Mail - "Valentine" (Matador Records)

War zuletzt viel los bei der Indie-Rockerin Snail Mail: zerfallene Liebesbeziehung, kurzer Aufenthalt in einer Entzugsklinik, jetzt ein neues Album. Das könnte mit Anfang 20 alles tief verunsichern - brachte der Amerikanerin, die bürgerlich Lindsey Jordan heißt, aber vor allem ein neues Selbstbewusstsein. Während ihr auch schon sehr schönes Debüt "Lush" vielleicht noch etwas starr an einem vor allem an die Neunziger angelehnten Gedanken festhielt, wie Indie-Rock zu klingen hat, sind die emotional aufgeladenen Songs auf "Valentine" nun detaillierter arrangiert und wagen mehr. Die Gitarren sind weniger schrammelig, werden gezielter eingesetzt und manchmal durch feine Synthie-Flächen oder erstaunlich klischeefreie Streicher ergänzt. Die Drums trauen sich hier und da sogar tanzbar zu sein. Auch ihr früher so introvertierter Gesang bricht öfter aus, wagt sich mal in die Kopfstimme, kratzt, leidet, bricht. Ein Album wie ein herzerwärmender Coming-of-Age-Film. Lennart Brauwers

Abba - Voyage (Universal)

Das neue Abba-Album "Voyage" zu hören ist, als beträte man nach 40 Jahren die Wohnung der großen Jugendliebe, die man seitdem nicht gesehen hat. Die Vorfreude ist genau so groß wie die Furcht - ist er/sie/es inzwischen fett geworden? Extrem gebotoxt? Sammelt Brettspiele? Oder, schlimmer noch, hängen an den Wänden Bilder von anderen Geliebten? Ja ja, man war 40 Jahre nicht da, aber wahre Liebe wartet! Zumindest was "Voyage" betrifft kann man sich beruhigt zurücklehnen: Es ist alles genau so, wie es war. Es gibt sogar zwei Weihnachtssongs. Ist das nicht schön. Juliane Liebert

Dieter Hallervorden - "80 Plus" (Telamo)

Ein paar Zitate aus "80 Plus" (Telamo), dem neuen Album von Dieter Hallervorden: "Für mich ist Gendern ein Martyrium." Oder: "Muss ich den Zapfhahn jetzt Zapfhuhn nennen?" Auch dies: "Ich bin ein Freund der Gerechtigkeit / Beim Gendern tut mir Mutter- und Vatersprache leid / Ihr Klang so schön, es ist verzwickt / wird von Sternchen, von Punkten und Strichen gef..." Und natürlich: "Ich weiß, ich bin ein alter weißer Knacker / doch auch in der Birne noch ein sexy Motherfucker." Das alles zu Musik irgendwo zwischen "My Way"-Imitaten ("Mein Leben, du warst kein Ponyhof / Ich provozierte als Clown und als Philosoph") und Après-Ski-Umpftata. Anders gesagt: Die Welt wäre nicht zwangsläufig ein besserer Ort, wenn es dieses Album nicht gäbe - aber die Chance, dass sie es mal wird, stiege schon. Jakob Biazza

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