Alben der Woche:Der Irrsinn der Arbeit

The Divine Comedy entfremden sich von der Arbeitswelt, Robag Wruhme zimmert Zirbenholz-Snare-Drums und Aviciis Studiopartner vervollständigen sein Album.

Von den SZ-Popkritikern

1 / 6

Pixx - "Small Mercies" (4AD)

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Quelle: Label

Hinter Pixx steckt die 23-jährige britische Sängerin Hannah Rodgers, die 2017 ein stilsicheres Debüt ablieferte: "The Age of Anxiety" war halb Elektro-Pop, halb nebliger Trip-Hop. Auch auf ihrer zweiten Platte bewegt sie sich zwischen den Stilen, nur das Selbstbewusstsein ist größer, die Synthesizer sind lauter und die Texturen der Songs widerborstiger geworden. Da knarzen auch mal Pixies-Gitarren. So punktgenau in der Mitte von Dream-Pop und Alternative-Rock muss man erst mal landen.

Annett Scheffel

2 / 6

Yeasayer - "Erotic Reruns" (Yeasayer/Cargo)

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Quelle: Label

Neue Musik gibt es auch aus der Weirdo-Werkstatt namens Yeasayer. Die experimentelle Rockband aus Brooklyn entfernt sich auf ihrem fünften Album "Erotic Reruns" noch ein Stück weiter von ihren Worldbeat-Anfängen und scheint wieder alles auf einmal zu verwursten oder verballhornen: Psychedelic, Indie-Rock, Giftpilz-Beats, sogar 80s-Disco. Alles ganz schön anstrengend also. Kann man natürlich gut finden.

Annett Scheffel

3 / 6

Robag Wruhme - "Venq Tolep" (Pampa Records)

Robag Wruhme - Vneq Tolep

Quelle: Pampa Records

Gäbe es eine Art Manufactum für Techno, lägen Robag Wruhmes Drumsounds ganz vorne in der Auslage, alles handgegerbt, echte Zirbenholz-Snares. Jedes Geräuschchen scheint in tagelanger Arbeit austariert worden zu sein, im Raum platziert, zu Ende justiert. Die Tracks funktionieren - sofern man halbwegs anständige Lautsprecher hat - wie Soundinstallationen, bei denen man jedes Detail einzeln betrachten kann (Hast du schon die Hihat hier gehört?). Für den Club ist das nur stellenweise geeignet, weil vieles erstaunlich kurz ist. Wie schade, dass etwa "Ago Lades" nach ein bisschen Eingrooven und kaum 40 Sekunden schon wieder vorbei ist. Die Stimmung ist freundlich-melancholisch, man denkt beim Hören plötzlich an Pfingstferien mit 17 und bestellt sich dann sündhaft teure Kopfhörer, weil: irgendeinen Vorteil muss es ja haben, inzwischen erwachsen zu sein.

Quentin Lichtblau

4 / 6

Avicii - Tim (Universal)

Posthumes Avicii-Album: 'Tim'

Quelle: dpa

Ein Dance-Album, das der Suizidprävention dienen soll? Klingt erstmal schräg, liegt bei Tim Bergling alias Avicii aber leider auf der Hand. Als der Superstar des EDM sich im April 2018 im Oman mit 28 Jahren das Leben nahm, hatte er sein neues Album zu 80 Prozent fertiggestellt. Seine Familie wollte es den Fans nicht vorenthalten und ließ die Songs von Berglings Studiopartnern so vollenden, wie sie annahmen, dass Bergling selbst sie vollendet hätte. Kein unheikles Unterfangen, das sich hier aber dadurch rechtfertigt, dass die Erlöse aus "TIM" (Universal) der ins Leben gerufenen Tim Bergling Foundation in Stockholm zugute kommen, die sich für Menschen in psychologischen Krisensituationen einsetzen soll. Musikalisch zeigt "TIM", dass Avicii auf bestem Wege war, sich vom too much, too fast seiner früheren Stadion-Supermelodie-Kitschhymnen zu lösen. Wer die R&B-Interpretationen "Bad Reputation" (feat. Joe Janiak) und "Ain't a Thing" (feat. Bonn) hört, kann nur erstaunt darüber sein, wie fein sich die ultra-eingängigen Melodiephrasen und Zeilen aus Berglings Software über die abgebremsten Beats legen, die mit einer ganz angenehmen Unwucht, also einem leichten Eiern, versehen sind. Songs wie diese lassen darüber hinwegsehen, dass die Single "SOS" (feat. Aloe Blacc) nicht ganz so elegant an Ed Sheerans "Shape of You" angelehnt ist.

Jan Kedves

5 / 6

Andreas Dorau - "Das Wesentliche" (Tapete Records)

Dorau

Quelle: Tapete Records

Weiß eigentlich schon jeder, dass der Mann zum Weltpopkulturerbe gehören sollte? Leider wohl noch nicht. Egal. Ziemlich viele kennen Andreas Dorau ja immerhin als New-Wave-Wunderkind, dem 1981 mit "Fred vom Jupiter" der schrägste deutsche Top-Ten-Hit aller Zeiten gelang. Da war er noch ein 16-jähriger Schüler und wollte als Popper eigentlich nur die Bier-Punks und Hippies ein bisschen provozieren, mit Mädchenchor und Kindergartenshow. So schlecht sein, dass es schon wieder gut ist. "König der Moewen". Bloß nicht kämpferisch-trotzig, eher vorsätzlich niedlich. Vom Herz in die Hüfte ins Hirn. "Evergreens of Psychoterror" hieß ein Dorau-Projekt später und das trifft die Methode dieses Intellekto-Pop schon sehr gut. Auf dem neuen Dorau-Album gibt's jetzt noch mal "Das Wesentliche", also liebevoll angeschunkelte Synthie-Pop-Soßen und Zeilen wie "Ich suche / eine neue Identität/ Eine / die mir wirklich / gut steht", die mit Doraus notorisch dünner, leicht comichaft quäkiger Stimme nicht einfach nur provozierend unschuldig klingen, sondern halsbrecherisch zahm.

Jens-Christian Rabe

6 / 6

The Divine Comedy - "Office Politics" (PIAS)

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Quelle: Label

Neil Hannon ist nicht zu entmutigen. Der Kammer-Pop auf dem neuen Album seiner auch schon 30 Jahre alten Band The Divine Comedy ist wie immer klug und einfallsreich, aber ziemlich unzeitgemäß. Wahrscheinlich ist es sogar Absicht und "Office Politics" doch als kleine Abhandlung über Entfremdung in der Arbeitswelt angelegt: Die Songs führen aus dem Nachkriegsengland in die Schulterpolsterwelt der späten Achtziger und unsere Zeit der technologischen Veränderung. Vertont ist das wie gewohnt vielseitig und üppig, und erinnert mal an den Synthie-Pop der Achtziger, mal an die England-Beobachtungen von Blur und mal an den Humor der Serie "The Office". Zeitgemäße Popmusik klingt anders, aber immerhin erfährt man viel aus ihrem Fußnotenbereich. In "Philip And Steve's Furniture Removal Company" zum Beispiel etwas über die Möbelspedition, die die beiden einflussreichen Minimal-Komponisten Reich und Glass in den Sechzigern betrieben. Darüber hinaus lernt man, was für ein Irrsinn Arbeit ist.

Annett Scheffel

© SZ.de/qli
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